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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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liegende Gewehr brachte einen schmalen dunklen Schatten hervor. Stattdessen glänzte dort, wo sich der Schemen des Pickels auf den Schnee malen sollte, nur unberührtes Weiß. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde fühlte Kirsten, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt.
    Ihr Zeigefinger huschte wie an einem Marionettenfaden über das Foto, erst irrlichternd von einem Punkt zum anderen, dann systematisch von links nach rechts und rechts nach links entlang unsichtbarer Zeilen. Bis ihre Fingerkuppe zum zweiten Mal über dieselbe Struktur, eine wellenförmige Erhebung im Schnee, strich. Einmal rechts neben Kristoffer und dann noch einmal links von ihm auf Höhe seiner Brust. Stempeln nannte man bei der Bildbearbeitung diese Funktion. Auf diese Weise retuschierte man ein Porträt, indem man ein hässliches Muttermal mit einem Stück glatter reiner Haut, das man von einer anderen Stelle kopierte, überstempelte. Ein nützliches Werkzeug, wenn man etwas aus einem Bild entfernen wollte, ohne dass es auffiel.
    Kirstens Hände waren eiskalt.
    Hör auf!, warnte eine Stimme in ihrem Kopf. Tu das nicht!
    Aber es war zu spät. Ihr Zeigefinger folgte dem Verlauf von Kristoffers Körper. Das Bild war in schlechter Qualität aus dem Drucker gekommen, die Auflösung, die Kristoffer damals per E-Mail aus dem Urlaub geschickt hatte, hatte nicht für mehr gereicht. Trotzdem fiel ihr jetzt eine weitere Stelle an seinem linken Arm auf. Eine Unsauberkeit im Foto, die nichts mit Kristoffers Jacke zu tun hatte.
    Kirsten fühlte sich wie in dem Augenblick, als sie den Eisbären auf sich hatte zukommen sehen. Hilflos. Sie hatte sich zu weit hinausgewagt. Dorthin, wo man plötzlich alleine steht, auf brechendem Eis.
    Die Expeditionsreisenden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hatten kein Photoshop gekannt. Auf ihren Fotos kündeten die Schatten von der Wahrheit. Der Abzug unter Kirstens Fingern jedoch hatte einen Schatten verloren, und mit ihm eine Wahrheit. Da war etwas gewesen an Kristoffers Seite. Etwas, so groß wie ein Mensch.
    Kirsten saß auf dem Sessel unter dem Fenster in ihrem Hotelzimmer, eine Decke um die Füße geschlungen. Ihr Zimmer zeigte in Richtung Fjord. Sie blickte auf die Gebäude der Universität und des Museums, vor denen die Scheinwerfer zweier Schneemobile die Straße entlangtasteten, das Dröhnen der Motoren durch doppeltes Glas gedämpft. Jonas schlief im Bett neben dem Fenster mit offenem Mund und ausgestrecktem Arm. Schlafend sah er Kristoffer noch ähnlicher.
    Ihre Mutter hatte Kirsten vorgehalten, dass sie bei Kristoffers Beerdigung nicht geweint hatte. Ein hemmungsloser Heulanfall wäre zweifellos unpassend gewesen, aber eine dünne, über die Wange laufende Tränenspur hätte echte Trauer bewiesen. Stattdessen diese kühle Beherrschung. Kirsten weinte auch jetzt nicht. Sie drehte das Foto in den Händen, die retuschierte Wahrheit für Ehefrau und Sohn. Bereits seit einer halben Stunde widerstand sie dem Drang, den Abzug in ihrer Faust zu zerknüllen. Doch das hätte sie am nächsten Tag Jonas erklären müssen, und so knallte sie lediglich die flache Hand mit Kristoffers Lächeln darin gegen die Wand unter dem Fenstersims. Ihre Handfläche erwachte zu prickelndem Schmerz. Das Foto rutschte die Wand hinab, fiel auf den Teppichboden und blieb dort liegen.
    Sie und Jonas hatten Kristoffer damals genötigt, ihnen das Foto von seinem Ausflug zum Gletscher zu schicken. Wie sie über sein Missgeschick mit der fast im Schmelzwasser versenkten Kamera gelacht hatten; seine Erzählkunst ein Zauber, der aus alltäglichen Kleinigkeiten unterhaltsame Geschichten schaffen konnte. Sie hatten ihn genervt, bis er versprochen hatte, ihnen das Bild zu schicken, aus dem Hotel, sobald er Zugang zu einem Computer hätte.
    Kirsten fiel nur ein Grund ein, weshalb ein Mann seiner Familie ein Foto schicken sollte, aus dem er etwas – jemanden – gelöscht hatte: eine andere Frau. Eine Frau an seiner Seite, die ihn vertraut, intim am Arm berührte, strahlend wie er selbst in der Freude des gemeinsamen Erlebnisses.
    War er deswegen im August ein weiteres Mal nach Spitzbergen gereist? Wegen dieser Frau? War alles andere – die Geburtstagsvorbereitungen, das Album über Fredriks Leben – lediglich vorgeschoben gewesen? Und wenn ja: Wer war sie?
    Und wer war Kristoffer Stolt?
    Kirsten hatte gehofft, auf Spitzbergen die Erinnerungen an Kristoffer erneuern, das Bild dessen, wer er gewesen war, vervollständigen zu können, damit sie

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