Ins Eis: Roman (German Edition)
Jonas später einmal von ihm erzählen konnte. Doch jetzt war es zersplittert, ein Mosaik aus Geröll und Eis wie das Chaos am Fuße jenes Gletschers, der die Kulisse für Kristoffers Verrat geliefert hatte.
Das Zimmertelefon klingelte. Die unverbindlich freundliche Stimme von der Rezeption. »Frau Stolt, es gäbe morgen tatsächlich noch zwei freie Plätze im Flieger nach Oslo. Sollen wir sie in Ihrem Namen buchen?«
Kirsten lehnte die Stirn gegen die Wand. »Kann ich Ihnen in fünf Minuten Bescheid geben?«
»Sehr gerne.«
»Ich melde mich gleich.«
Sie legte auf. Jonas bewegte sich unruhig im Bett, schlief jedoch weiter.
Was machte sie hier? Morgen war der Termin beim Gouverneur. Er sollte ihr verstehen helfen, weshalb Kristoffer gestorben war. Die Frage, die sie die letzten Monate verfolgt hatte: Galt sie immer noch? Sie hatte den Tod ihres Mannes nicht nachvollziehen können, aber wie sie jetzt ahnen musste, galt seinem Leben der größere Zweifel.
Kirstens Blick fiel auf die Notiz und das aufgerissene Päckchen, das Fredrik für sie und Jonas an der Rezeption hinterlegt hatte.
Liebe Kirsten,
habt ihr trotz des Wetters einen schönen Tag gehabt? Ich bin morgen um 8.30 Uhr beim Frühstück – freue mich auf Jonas’ Bericht.
Der Kompass ist für ihn. Morgen zeige ich ihm, wie er funktioniert.
Dein Fredrik
Das Foto lag noch dort, wohin es gefallen war, auf dem Boden neben Jonas’ kleinem Seehund, der den Fingern seines schlafenden Besitzers entglitten war. Ein gefallenes Stofftier, zwei Menschen in diesem Zimmer, und zwei Gespenster. Eines namenlos, gesichtslos, zu viel.
Sie wählte die Nummer der Rezeption. »Buchen Sie den Flug nicht, wir bleiben. Dürfte ich Sie bitten, nichts davon meinem Schwiegervater gegenüber zu erwähnen?«
»Selbstverständlich, Frau Stolt. Es freut uns, dass Sie bei uns bleiben. Gute Nacht, Frau Stolt.«
»Gute Nacht.«
Kirsten saß einem Mann Anfang sechzig gegenüber, mit sich lichtendem Haaransatz, Brille und einem freundlichen Gesicht über einem blassblau karierten Hemd. Der Gouverneur von Svalbard – Sysselmannen lautete sein offizieller Titel – war der oberste Repräsentant Norwegens auf Spitzbergen. Er verantwortete die Verwaltung, war zuständig für den Schutz der empfindlichen arktischen Umwelt und leitete die Polizeiarbeit. Von seinem Büro waren die Suche nach Kristoffer und danach die Untersuchung der Umstände seines Todes koordiniert worden. Der Gouverneur hielt die Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet, während er Kirsten berichtete, was er über Kristoffers Unfall wusste.
Es war an einem Mittwoch Ende August geschehen. Am Tag zuvor war eine Wetterverschlechterung für Mittwochabend vorhergesagt worden; am Mittwochmorgen hatte sich die Schlechtwetterwarnung bereits auf den Nachmittag bezogen, aber da war Kristoffer schon unterwegs gewesen. Vormittags hatte die Temperatur bei etwa fünf Grad plus gelegen, bei mäßigem Wind und leichter Bewölkung. Kristoffer war alleine gewandert, mit kompletter Ausrüstung: Peilsender, GPS, Signalpistole, Gewehr, wind- und wasserdichte Oberbekleidung, Biwaksack für Notübernachtungen im Freien sowie Erste-Hilfe-Ausrüstung. An den Tagen zuvor hatte es bei ungewöhnlich hohen Temperaturen immer wieder geregnet, von den Gletschern floss Schmelzwasser in großen Mengen ab. Gegen Mittag musste Kristoffer eine Stelle gefunden haben, von der aus es ihm sicher schien, den angeschwollenen Fluss zu überqueren. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Wetter bereits gedreht: Die Temperatur war gesunken, der Wind hatte aufgefrischt. Schneeregen hatte eingesetzt.
Wahrscheinlich war Kristoffer bei der Flussüberquerung ausgerutscht, von einem Felsbrocken ins Wasser gestürzt oder einfach nur gestolpert. Die Strömung musste stark genug gewesen sein, um ihn ein Stück mit sich zu reißen, das konnte auch bei seichtem Wasser schnell passieren. Um nicht unter Wasser gedrückt zu werden, hatte er sich seines Rucksacks entledigt. Er hatte es geschafft, sich aus dem Fluss zurück ans Ufer zu kämpfen, aber da war der Rucksack schon abgetrieben. Die Suchmannschaft hatte diesen später im seichten Wasser nahe am Flussufer gefunden, etliche Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Kristoffers Leiche gelegen hatte. Gewehr, GPS, Signalpistole, Handschuhe, Biwaksack, Mütze, Regenhose und ein weiteres Fleece – das alles war für ihn unerreichbar geworden. Schlimmer noch: Er selbst war durch den Sturz ins Wasser nass bis auf die
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