Ins Eis: Roman (German Edition)
Eisklettern, manchmal arbeitete er zwei Monate lang gar nicht, dann wieder siebzig Stunden die Woche. Hatte ich erzählt, dass wir uns bei einem Rennen kennengelernt haben?«
Tim schüttelte den Kopf.
»Kristoffer hatte mich reiten sehen. Ich war Letzte geworden.« Sie musste lachen. »Das lag nicht an mir: Mein Pferd war gerade von einer Verletzung kuriert und kaum trainiert. Kristoffer hat mich beobachtet, wie ich es trotzdem nach dem Rennen gelobt habe, viel länger als die Sieger es bei ihren Pferden taten. So, wie ihr die Hunde lobt, selbst wenn einer mal nicht richtig zieht. Und da hat er mich angesprochen.«
Tim murmelte, das könne er sich gut vorstellen.
»Aber irgendwann entzaubert sich das Leben. Du verlierst das Ungewöhnliche oder den Glauben daran. Du veränderst dich beruflich. Kristoffer gab seine Selbstständigkeit auf und wurde Partner in einer Unternehmensberatung. Die Sechzig-Stunden-Woche wurde zum Dauerzustand, die Wochenenden verbrachten wir plötzlich zu Hause. Wir reisten an Orte, die wir bereits im Jahr zuvor besucht hatten, wir perfektionierten unser kleines, sicheres Familiensystem. Dann rief eines Tages Fredrik an – und Kristoffer begann, ernsthaft darüber nachzudenken, in die Bank zu wechseln. Wir beschlossen, nach Köln zu ziehen. Es schien sinnvoll, auf der Hand liegend. Und so gehst du den Weg, der sich dir öffnet. Ich habe ihn unterstützt, natürlich, was auch sonst. Es waren gemeinsame Entscheidungen, die wir getroffen haben, vielleicht waren es sogar die richtigen, wer weiß. Wir waren ein gutes Team.«
»Und jetzt denkst du, dass er eine Geliebte hatte.«
»Ich glaube, ich weiß es.«
Tim zuckte ein wenig verlegen mit den Achseln und schielte die Straße hinunter.
»Wie gut kennst du Ingrid Solberg, Tim? Kennst du sie überhaupt?«
»Die Ärztin im Krankenhaus? Klar, in Longyearbyen kennt man sich. Ihr Mann – er heißt Trond – ist mit Oda befreundet. Ich habe Ingrid ein paar Mal getroffen. Ich weiß nicht viel über sie, aber Oda sagte, sie würde mit auf die Tour gehen. Auf die Herrentour – als einzige Frau«, schob er nach. Ein weiteres Detail, das Fredrik ruhig hätte erwähnen können, wie Kirsten etwas verärgert befand.
»Wie schätzt du sie ein?«
Tim warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Schuh aus. »Ich weiß nicht genau. Kompetent. Klug. Nicht unattraktiv.«
»Ich fand sie distanziert. Ich dachte, die meisten Männer finden kühle Frauen weniger erotisch.«
»Sie ist sexy auf eine distanzierte Art. Wie man es von seiner Ärztin erwartet. Kühl ist sie nur nach außen hin.« Er hatte den Zigarettenstummel mittlerweile so oft ausgetreten, dass er fast in der festen Schneedecke des Parkplatzes verschwunden war. Nach ein paar Sekunden erklärte er: »Ich bin letzten Sommer mal nachts auf dem Nachhauseweg von einer Party an der Universität vorbeigekommen. Es hat einen Wolkenbruch gegeben, und ich wollte mich im Eingang von UNIS, also der Universität, unterstellen. Doch der war schon besetzt – von Ingrid und ihrem Mann. Die beiden waren voll bei der Sache. Glaub mir, was ich da gesehen habe, war das Gegenteil von kühl.«
»Du bist stehen geblieben und hast ihnen zugeschaut?«
Er wurde rot. »Nur kurz.«
»Ich glaub’s nicht.«
Tim sah rasch zu ihr hin und genauso schnell wieder weg. »Und ich glaube nicht, dass du dir mit all diesen Fragen einen Gefallen tust«, sagte er leise.
Kirsten schlief schlecht in dieser Nacht und träumte von einem Friedhof voll roter Gedächtniskerzen. Es regnete, aber der Regen konnte den Kerzen nichts anhaben. Eine Gruppe hochgewachsener Frauen versperrte ihr den Eingang zum Friedhof; ihre Gesichter blieben hinter Sturmmasken verborgen. Sie konnte nur von außen über den Zaun auf den Friedhof blicken, doch von hier konnte sie Kristoffers Grab nicht von den anderen unterscheiden. Sie wusste nicht, wo er lag. Auf der Suche nach einem zweiten Eingang lief sie am Zaun entlang, und parallel zu ihr lief ein Schatten. Er war riesig, mit breiten Schultern und langen Haaren, und im Laufen ließ er sich auf alle viere nieder, drehte ihr den Kopf zu und ließ seine langen weißen Reißzähne aufblitzen.
Das Klingeln ihres Zimmertelefons riss sie aus dem Schlaf. Es war mitten in der Nacht, sie hatte gerade einmal zwei Stunden geschlafen. In Erwartung einer Katastrophenmeldung hechtete sie zum Hörer, doch es war eine gut gelaunte Stimme – Fredriks Stimme –, die ihr riet, aus dem Fenster zu sehen. Über
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