Ins Eis: Roman (German Edition)
großer Höhe geformt werden, erklärte Tim.
Sie fuhren weiter.
Kirsten war gewarnt worden, dass das Tal sich jetzt im Winter ganz anders präsentierte als in den Berichten über Kristoffers Tod. Von einem Fluss war nichts zu sehen. Verborgen unter Eis und Schnee blieb er eine abstrakte Gefahr. Das Land bot sich nicht dar als die karge, unbarmherzige Hölle, die Kirsten sich vorgestellt hatte. Im Gegenteil. Obgleich noch unsichtbar für die Menschen, erreichten die Strahlen der Sonne bereits das obere Drittel der Berge, badeten die Gipfel in das Versprechen näher rückender Wärme. Darüber das nuancierte Azur des Himmels, dessen Ton mit der Höhe an Intensität gewann. Hier, in diesem weich geschneiten Frieden mit seiner von keinem menschlichen Eingriff belasteten Schönheit, sollte der Schauplatz von Kristoffers Todeskampf gewesen sein.
Tim schaltete den Motor aus und zog sich den Helm vom Kopf. Noch im Sitzen deutete sein Arm auf das Ende eines etwa fünf Meter hohen Rückens, über dessen Grat sich Wechten schoben. Ein Stück dahinter hatte der Wind den Schnee davongeweht und Flecken karger Erde und Gestein entblößt, ein schmutziges Braungrau bar fast jeglicher Vegetation. »Dort«, sagte er.
Mit steifen Bewegungen glitt Kirsten vom Schneemobil. Sie nahm ihren Helm ab und schlug die Gesichtsmaske hoch. Ein wenig Schnee rieselte von einer Wechte herab, landete ein paar Meter entfernt von der Stelle, auf die Tim gedeutet hatte.
»Wie kannst du so sicher sein?« Tim hatte nicht einmal sein GPS zu Rate gezogen.
»Ich war Teil des Suchtrupps.« Tim zog seine Handschuhe aus und tastete nach seinem Feuerzeug. Diesmal rauchte er vorgedrehte Zigaretten, ein Tribut an die Kälte.
Kirsten verdaute noch diese neue Information, während er das Feuerzeug anzündete. »Du warst dabei? Du hast meinen Mann gesehen?«
»Ich bin Freiwilliger beim Roten Kreuz. Wenn ein Notruf hereinkommt wegen eines Unfalls oder eines Vermissten und die Sicht nicht gut ist, schicken sie den Helikopter los plus Rettungsmannschaften zu Fuß. Sie hatten Kristoffer bereits gefunden, als ich hier ankam. Aber er lag noch dort.« Er drehte den Kopf zur Seite und blies den Rauch seiner Zigarette von ihr fort. Mit der Kippe in der Hand machte er eine winzige, einladende Bewegung.
Kirsten half Jonas, den Anhänger zu öffnen. Anstatt ihn springen zu lassen, hob sie ihn heraus. Mit all den Kleidern und schweren Stiefeln wog er bestimmt zwei Kilo mehr als sonst.
»Sind wir da?«, wollte der Junge wissen. Sie nickte und schloss das Klettband seiner Mütze unter dem Kinn.
»Kommt Papa auch her?«
Kirstens Mundwinkel begann zu zittern. »Nein, Schätzchen«, flüsterte sie, »er wird nicht herkommen. Aber ich habe dir doch gesagt, dass wir an den Ort fahren, wo Papa das letzte Mal an dich gedacht hat. Das ist hier.«
Suchend sah Jonas sich um. »Warten wir hier auf ihn?«
Tim löste sich vom Schneemobil und schlenderte ein paar Meter davon, die Hände in die Jackentaschen vergraben. Er wandte ihnen den Rücken zu; der Wind trieb den Rauch seiner Zigarette das Tal entlang in Richtung Küste.
»Nein, aber wir werden Papa einen Gruß dalassen. Den hast du doch in deinem Rucksack, weißt du noch?«
Voller Eifer begann Jonas im Anhänger zu wühlen. Kurz darauf präsentierte er stolz die rote Friedhofskerze, die sie aus Deutschland mitgebracht hatten. Tim löschte seine Zigarette im Schnee, steckte den Stummel in eine kleine Aluminiumdose und bot Kirsten sein Feuerzeug an. Mit zitternden Fingern brauchte sie drei Anläufe, um den Docht anzustecken.
»Siehst du, Jonas? Dort, das Ende dieser kleinen Anhöhe. Grab ein Loch in den Schnee, und stelle die Kerze so hinein, dass sie nicht umfallen kann. Machst du das?«
Der Junge nahm die brennende Kerze mit beiden Händen entgegen. Hochkonzentriert, das Licht wie einen zerbrechlichen Gegenstand von sich gestreckt, wackelte er über den Schnee, in den er immer wieder bis zu den Waden einbrach. Aber er fiel nicht, ließ die Kerze in ihrer Plastikhülle nicht los. Die Flamme flackerte wild, doch der Deckel schützte sie vor dem schlimmsten Wind. An der Stelle, die Kirsten beschrieben hatte, drehte Jonas sich fragend zu ihr um. Kirsten sah Tim an. Tim nickte.
Jonas kniete nieder. Er behielt die Kerze in der Linken, während er mit der Rechten eine Kuhle schaufelte. »Und wenn Papa die Kerze nicht findet?«, rief er besorgt.
Kirsten kämpfte um ihre Stimme. »Es ist doch lange dunkel hier, Jonas, und je
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