Ins Eis: Roman (German Edition)
Hochtouren. »Das war dann wohl im August.«
»Genau. Elisabeth war nicht begeistert über meinen Beschluss, Ingrid einzuladen. Und da ich Kristoffer damals die Einladung mitgeben wollte, damit er sie persönlich übergibt, hat sie ihre zweite Reise spontan so gelegt, dass sie sich ein Bild von Ingrid machen konnte, ohne sie allzu offensichtlich zur Audienz antreten zu lassen. Sie hatte wohl Angst vor einer vulgären Halbrussin, die sich bei der Feier auf unsere Kosten besäuft und von ihren Unterschichtseltern keinerlei Manieren beigebracht bekommen hat.«
Das wiederum klang schon mehr nach Elisabeth.
»Wie auch immer, ich muss jetzt los«, fuhr Fredrik fort. »Oda wartet auf mich.« Er gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Bevor er gehen konnte, hielt sie ihn kurz zurück. »Sag mal, hast du dem Hotel eigentlich von der Schmiererei an deiner Zimmertür erzählt?«
»Ja, habe ich. Das war ihnen so unangenehm, dass ich am nächsten Tag einen Früchtekorb und eine Flasche Wein im Zimmer hatte. Ein dummer Scherz. Wusstest du, dass Svalbardposten einen Beitrag über mich gebracht hat? Über meine Rückkehr nach dreißig Jahren und meinen Geburtstag? Der Hotelmanager meint, womöglich hat das den Ausschlag für das Gekritzel gegeben. ›Ein alter Kumpel kehrt zurück‹, haben die getitelt. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft das Wort ›alt‹ in dem Text vorkam.«
»Hast du hier Feinde, Fredrik?«, fragte sie.
Er schien überrascht. Männer wie er machten sich überall nicht ausschließlich Freunde, und selten kümmerte es sie. »Nein«, erwiderte er. »Wieso? Fühlst du dich nicht sicher? Bist du bedroht worden?«
»Bloß von einem Eisbären. Vielleicht sehe ich seitdem Gespenster.«
»Das kann gut sein. Der Körper verinnerlicht Angst. Er saugt sie in seine Zellen, und danach dauert es oft lange, bis die Furcht wieder aus ihnen hinaussickert und uns mit uns alleine lässt.«
»Dann kennst du das Gefühl?«
Sein Blick ging an ihr vorbei aus dem Fenster und über den Fjord. Er presste einen kurzen Moment lang seine Lippen zusammen. »Ja, ich kenne das Gefühl. Aber das ist lange her.«
»Sind das Papas Sachen?«
»Ja, das sind Papas Sachen.«
Sie hatte die beiden Plastikboxen, die ihr der Gouverneur mitgegeben hatte, vor das Bett gezerrt. Das, was Kristoffer an seinem letzten Tag bei sich gehabt hatte, lag ausgebreitet auf der Bettdecke. Kirsten hatte alles abgetastet, jedes Rucksackfach untersucht und doch nichts gefunden, was irgendeinen Rückschluss auf eine Geliebte erlaubt hätte.
»Was suchen wir denn, Mama?«
Die Wahrheit über ihre Ehe.
»Wir überlegen, was wir mit nach Hause nehmen wollen, Schatz. Im Flugzeug dürfen wir nicht alles mitnehmen, also müssen wir aussortieren.«
»Und wenn wir doch alles mitnehmen?«
»Dann müssen wir zur Post gehen und Pakete schicken.«
»Ich will alles mitnehmen!« Jonas stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Schon zitterte die Oberlippe verdächtig, in den Augen schimmerte es feucht. Kirsten nahm ihn in die Arme, presste ihr Gesicht in sein zerzaustes Haar und sagte: »Ist schon gut, Jonas. Wir werfen nichts von Papa weg, in Ordnung?«
Das schien ihn zu erleichtern, denn er half Kirsten sogar dabei, die Kiste wieder einzuräumen. Blieb noch die zweite Plastikbox, deutlich größer als die erste, mit den Sachen aus Kristoffers Hotelzimmer.
Bislang hatte Kirsten diese Kiste nicht näher untersucht, inzwischen hatte sie jedoch genug von Geheimnissen, Dingen, die immer irgendjemand vergessen hatte zu erzählen. Kurz darauf war das breite Doppelbett von verschiedenen Stapeln bedeckt: Unterwäsche, Hemden und Shirts, eine Jeans und eine weitere Hose mit leeren Taschen. Kristoffers Pyjama. Ein Waschbeutel mit vertrauten Gegenständen aus ihrem Badezimmer. Keine Kondome. Einige Karten von Spitzbergen, ein englischer Roman, ein Reiseführer auf Norwegisch. Eine Mappe.
Jonas hatte sich eine vom Hotel bereitgestellte Schachtel Bauklötze genommen und sich zum Spielen unter das Fenster zurückgezogen. Kirsten warf die Kleidung zurück in die Kiste und setzte sich mit angezogenen Beinen, den Rücken an die Wand gelehnt, auf das Bett. Sie griff sich die Mappe. Beim Öffnen fielen ihr verschiedene Dokumente in den Schoß: ein Flyer von Odas Agentur, ein Infoblatt über ein niederländisches Segelschiff, das im Sommer Segeltörns rund um Spitzbergen anbot, sowie eine Visitenkarte des Ehepaars Ingrid und Trond Solberg. In einer Klarsichtfolie steckten
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