Ins Eis: Roman (German Edition)
dunkler es ist, desto heller brennt die Kerze. Er wird sie auf jeden Fall finden.«
Die Erklärung schien Jonas’ Sorgen zu zerstreuen. Er widmete sich wieder seiner Aufgabe.
»Willst du, dass wir hier Mittag machen?«, fragte Tim leise.
»Nein.« Sie schlüpfte aus ihren Überhandschuhen und wischte sich mit den dünneren Fleecehandschuhen die Tränen aus den Augen. »Ich hasse Totenmahle.« Und lauter: »Jonas, die Kerze ist noch etwas schief. Ja, so ist es besser.«
»Es wundert mich, dass dein Schwiegervater nicht mitgekommen ist.«
»Er hatte es sich überlegt, aber dann kam eine Telefonkonferenz dazwischen.«
»Am Wochenende?«
»Ich weiß es auch nicht genau. Irgendwas Wichtiges mit der Bank geht gerade vor sich, und ich denke, Fredrik wollte das Gespräch nicht verschieben, oder vielmehr, er wollte es nicht kommende Woche hier führen. Die halbe Familie steckt da mit drin. Manche Sachen diskutiert man lieber vor dem Familienprogramm. Das hilft, den Schein zu wahren.«
Jonas stand auf und begutachtete sein Werk. In der Weite des Tals leuchtete das rote Plastik mit dem warmen Flackern darin wie eine Signalboje.
»Ich frage mich, wie es überhaupt zu dem Unglück kommen konnte«, sagte Tim, solange Jonas noch außer Hörweite war.
»Wie meinst du das?«
»Nun, ich habe dir ja gesagt, dass ich deinen Mann getroffen hatte. Er war keiner, der sich dumm anstellte. Er schien zu wissen, was er tut.«
»Der Gouverneur sagte, er habe bei der Flussüberquerung Pech gehabt.«
»Ja, ich weiß. Aber er hätte den Fluss hier nicht überqueren müssen. Er hätte umdrehen können, so hätte ich es gemacht. Mit seinem Biwaksack hätte er ohne Probleme die Nacht draußen verbringen können, das wäre vielleicht kein Spaß gewesen, aber er hätte überlebt.«
Vor ein paar Tagen noch hätte Kirsten eifrig zugestimmt, erleichtert, nicht die Einzige zu sein, der die simple Logik des Unfalls abging. Das war, bevor sie den fehlenden Schatten auf der Fotografie entdeckt hatte. Bevor die Fragen sich verschoben hatten. Jetzt sagte sie lediglich: »Ich kann es auch nicht verstehen.«
»Jonas, lauf doch schon einmal los, und klopf an Opas Zimmertür. Ich komme gleich nach.« Kirsten wartete, bis ihr Sohn davongestoben war und sich die Eingangstür des Hotels hinter ihm schloss. Sie blieb zurück mit seinen und ihren Sachen, ein wirrer Haufen zu ihren Füßen. Tim steckte sich wieder einmal eine Zigarette an.
»Tim, darf ich dich etwas fragen?«
»Sicher, fragen darfst du immer.«
Sie mochte den gelassen-weichen Schweizer Akzent, der sein Hochdeutsch färbte. Er hielt ein wenig mehr Abstand zu ihr als nötig, obwohl der Wind den Zigarettenqualm von ihr fortblies. Er hatte ihr erzählt, seine Mutter sei vor ein paar Jahren an Lungenkrebs gestorben, trotzdem hatte er es noch nicht geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Kirsten vermutete, ein Leben, das viel auf Montage verbracht worden war, begünstigte keine guten Vorsätze.
»Kannst du dir vorstellen, dass Oda und mein Mann eine Affäre gehabt haben?«
Tim kniff die Augen zusammen. Er trug dieselbe Mütze wie an dem Tag, an dem er sie vor dem Bären gerettet hatte, eine ausgewaschene Wollmütze, die jetzt grau war, aber vielleicht einmal blau wie seine Augen gewesen war. Seine Lippen schlossen sich um die Zigarette, er sog tief ein.
»Oda ist lesbisch«, sagte er schließlich mit einem etwas schiefen Grinsen.
»Richtig lesbisch?«
»Du meinst, ob sie bi ist oder so was Halbes?« Tim zuckte mit den Achseln.
Das darauf folgende Schweigen schien ihm so unangenehm zu sein wie ihr, dennoch überraschte er sie mit der Frage, ob sie denn eine glückliche Ehe geführt habe. Es war ein Moment, in dem Kirsten sich sehr gerne ebenfalls an einer Zigarette festgehalten hätte.
Mit der Fingerspitze kratzte sie etwas Eis vom Sitz des Schneemobils. »Ich schätze, meine Ehe hatte die Phase erreicht, wo man ein weiteres Paar ist, für das die Wahrscheinlichkeit, sich irgendwann scheiden zu lassen, bei fünfzig Prozent liegt.«
Die Zigarettenspitze glühte auf. »Welche Phase ist das?«
Das Eis klebte hartnäckig an der Kante des Sitzes. Der Entzug ihrer Körperwärme hatte es entstehen lassen; es gab erst nach, als sie mit den Knöcheln darauf schlug. »Am Anfang war alles ungewöhnlich. Was wir beruflich taten, aber auch unsere Hobbys. Kristoffer war Wirtschaftsjurist, er arbeitete als freier Unternehmensberater für mittelständische Unternehmen. Er war oft in den Alpen, ging
Weitere Kostenlose Bücher