Ins Eis: Roman (German Edition)
anschauen konnte. Es begann mit Bildern von Kirstens Geburtstagsparty Anfang August, ältere Bilder – also von Kristoffers Reise im Juni – gab es keine. Die Aufnahmen jüngeren Datums zeigten Fotos aus der ersten Woche von Kristoffers letzter Reise nach Spitzbergen Ende August.
Kirsten wechselte in den Einzelbilder-Modus und klickte langsam eine Aufnahme nach der anderen durch – von hinten nach vorne. Da waren Fotos von Rentieren mitten in Longyearbyen, Nahaufnahmen von ihren länglichen Köpfen unter verzweigten Geweihen, den breiten Hufen. Der Anzeige nach datierten sie zwei Tage vor Kristoffers Tod. Es folgte eine Serie von Kohleindustriedenkmälern im Regen, düstere Bilder in Schwarz-Weiß, darunter zwei Fotos von Kristoffer vor einem alten Kohlewagen. Es war nicht zu erkennen, ob die Fotos mit Selbstauslöser gemacht worden waren oder von einer anderen Person. Am selben Tag hatte Kristoffer den Flughafen und die Landebahn fotografiert. Dann, weiter in der Zeit zurück, in den ersten Tagen seiner Ankunft in Longyearbyen, Bilder von Hotels, Cafés und Restaurants. Auf einigen Bildern war eine blonde Frau zu sehen, mit aufrechter Haltung und in einem eleganten Mantel, einen hellgrünen Regenschirm über sich gespannt. Dann die Frau und Kristoffer zusammen an einem Tisch in einem Restaurant, etwas gekünstelt über die Menükarten hinweg in die Kamera lächelnd, Kerzenschein auf ihren Wangen. Kristoffer hatte sogar ein paar Speisekarten abfotografiert.
Die Frau war Elisabeth. Fredriks Ehefrau, Kristoffers Stiefmutter.
Kirsten hatte nicht gewusst, dass sie mit Kristoffer in Longyearbyen gewesen war.
Am nächsten Morgen konfrontierte sie Fredrik mit ihrer Erkenntnis. Ihr Schwiegervater war etwas abgelenkt, es mussten die letzten Vorbereitungen für das Geburtstagsprogramm getroffen werden, am nächsten Tag würde die Familie ankommen. Er schien es nicht merkwürdig zu finden, dass Kirsten nichts von Elisabeths Ausflügen nach Spitzbergen gewusst hatte.
»Ausflüge?«, echote Kirsten. »Reden wir tatsächlich über Plural?«
»Ja, Elisabeth war letztes Jahr zweimal auf Spitzbergen. Immer wenn Kristoffer auch hier war. Seine Anwesenheit hat ihr Sicherheit gegeben, sie wusste ja überhaupt nicht, was sie erwarten würde. Aber sie war immer nur wenige Tage hier. Im August ist sie kurz vor Kristoffer nach Longyearbyen geflogen. Als er starb, war sie längst abgereist. Deshalb ist es dir gegenüber wahrscheinlich nie erwähnt worden.«
»Habe ich das richtig verstanden: Elisabeth war auch damals im Sommer, bei Kristoffers vorletzter Reise, mit ihm hier?«
»Ja, ein paar Tage im Juni. Sie ist dann weiter zu Freunden nach London geflogen. Eine Taufe. Sechshundert Euro für ein albernes Taufgeschenk – ich bitte dich, so etwas merkt man sich.«
Taufgeschenke interessierten Kirsten nicht, dagegen wohl die Reise im Juni, von der Kristoffer das retuschierte Foto geschickt hatte. War er an diesem Tag mit Elisabeth unterwegs gewesen? Er hatte immer gesagt, er halte seine Stiefmutter für eine undurchsichtige Schlange. Außerdem: Elisabeth auf einem Gletscher? Das schien kaum vorstellbar. Und selbst wenn, warum hätte Kristoffer das Foto retuschieren sollen? Warum verbergen, wer bei ihm war? Selbstverständlich hätte Kirsten irgendwann von Elisabeths Aufenthalt erfahren, da hätte er das Foto doch einfach schicken können mit dem Hinweis »Übrigens, Schatz, Elisabeth ist auch hier, um Hotels zu testen. Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig es war, sie mit ihren High Heels auf diesen Gletscher zu bugsieren.«
Undurchsichtig oder nicht, Elisabeth war definitiv eine attraktive Frau. Und seit Kristoffer mit dem Gedanken gespielt hatte, in die Bank einzusteigen, hatte sie deutlich mehr Interesse für ihn und Kirsten gezeigt.
Fredrik unterbrach ihren Gedankengang. »Was soll denn daran merkwürdig sein, Kirsten? Ich meine, Kristoffer und Elisabeth waren die Hauptorganisatoren meiner Geburtstagsfeier. Kristoffer hat sich um das Programm gekümmert, Elisabeth um die Abende in Longyearbyen, das Hotel, die Dinners. Du kannst dir vorstellen, wie wenig begeistert sie davon war, meinen Geburtstag nach Spitzbergen zu verlagern, aber sie hätte sich die Organisation niemals nehmen lassen. Sie ist Perfektionistin, wie du weißt. Außerdem«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, »wollte sie unbedingt Ingrid kennenlernen.«
Kirsten goss sich Kaffee nach. Es war noch nicht einmal neun Uhr, und ihr Gehirn arbeitete auf
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