Ins Eis: Roman (German Edition)
dem Fjord flackerten grün-weiße Bänder.
»Wir sind in fünf Minuten auf dem Parkplatz«, sagte Kirsten und legte auf. Jonas murmelte etwas, das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, halb Frage, halb Jammern.
»Nordlichter, Jonas!« Kirsten sprang in ihre Skihose und zog sich den Daunenparka über das Nachthemd. »Willst du sie denn nicht sehen?« Sie hob ihn aus dem Bett und stellte sich mit ihm auf den Armen ans Fenster. Ein paar Sekunden starrten sie die weißlichen Schleier am Himmel an. »Ich treffe mich mit Opa auf dem Parkplatz, willst du mit?«
Aber Jonas schlief schon fast wieder.
Kirsten schob sich ein Stirnband über die Ohren, nahm sich zwei Paar Handschuhe und war bereits auf dem Gang, als ihr der Fotoapparat einfiel. Sie huschte zurück ins Halbdunkel, wühlte sich durch ihre Reisetasche, bis sie das Stativ fand, und griff dann nach Kristoffers großer Spiegelreflexkamera. Ihre eigene kleine Kompaktkamera ließ sie auf dem Nachttisch zurück.
Im erleuchteten Flur des Hotels flackerte eine kaputte Lampe. Als Kirsten die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss, vernahm sie ein paar Türen weiter ein dumpfes Echo. Sie hielt inne. Ein Stück den Gang hinunter, bei Fredriks Zimmertür, erahnte sie eine Bewegung. Sie sah sich um, lauschte. Sie war allein im Flur, alles war still. Die flackernde Lampe befand sich zwischen ihr und Fredriks Zimmer. Kirsten trat näher. Fredriks Tür stand offen, bewegte sich langsam im leichten Zug. Dahinter lag der Raum in Dunkelheit, das Dröhnen eines Motorschlittens, der draußen vorbeifuhr, klang deutlich aus dem Inneren an ihr Ohr. Offenbar hatte Fredrik ein Fenster offen gelassen. Auf der Türleiste lag ein Lederhandschuh. Kirsten schimpfte sich einen Angsthasen, weil ihr Herz so heftig klopfte, bückte sich nach dem Handschuh und schloss die Tür.
Fredrik und Kirsten waren nicht die einzigen Touristen, die sich vor dem Hotel einfanden, um die Inszenierung des berühmtesten arktischen Theaters zu bewundern. Sie umrundeten das Hotel in Richtung Fjord, weil sich dort weniger Straßenlichter befanden und die Nacht dunkler war. Ein gigantisches weißlich grünes Band zog sich von der Bergkulisse aus über den Fjord, von Zeit zu Zeit flackerten seitlich davon kleinere Lichter auf und verblassten wieder. Stille Musik. Die ersten Minuten starrte Kirsten einfach nur in den Himmel. Sie hatte schon früher Nordlichter gesehen, aber die Faszination erschöpfte sich in keiner Wiederholung. Fredrik schwieg kameradschaftlich an ihrer Seite. Er war froh gewesen, als sie ihm seinen Handschuh gebracht hatte, denn bis dahin hatte er wie ein verdrehter Storch mit der ungeschützten Hand unter seiner Achsel dagestanden. Er half ihr, das Stativ aufzubauen. Kirsten befestigte die Kamera darauf, schaltete sie ein und fluchte, als es kurz rot blinkte und die Anzeige dann erlosch.
»Was ist los?«
»Der Akku ist leer. Dabei habe ich heute vielleicht gerade einmal zehn Fotos gemacht.«
»Du hattest den Apparat auf der Tour dabei? Im Rucksack? Dann ist es wahrscheinlich die Kälte, die dem Akku den Garaus gemacht hat. Du solltest Batterien hier besser am Körper tragen.«
»Ich glaube, Kristoffer hatte noch einen zweiten Akku.« Sie reichte Fredrik die Kamera zum Halten und öffnete erst das Deckelfach der Kameratasche, dann das Netz auf der Innenseite, wo sich lediglich eine Tüte Papiertaschentücher fand. Am Schluss suchte sie in der Fronttasche. Da sie nichts entdeckte, zog sie ihre Fleecehandschuhe aus und tastete erneut alles ab. Sie nahm sogar das Päckchen Taschentücher heraus, doch darunter versteckte sich kein Akku. Gerade wollte sie die Taschentücher wieder zurückstopfen, da spürte sie etwas Hartes in der Packung.
Es war eine zweite Speicherkarte, ohne Plastikhülle. Als Kirsten die wertvolle Spiegelreflex nach Kristoffers Tod von Erland in Empfang genommen hatte, war die Karte in der Kamera bis auf ein paar wenige Landschaftsbilder leer gewesen. Von einer zweiten Speicherkarte hatte sie nichts gewusst, Kristoffer musste sie zum Schutz vor Schmutz und Reibung zwischen die Taschentücher geschoben haben.
Bevor er gestorben war.
Kirsten schob die Speicherkarte in ihre Jackentasche. Die Polarlichter waren nur noch Nebensache. Sie finde den zweiten Akku nicht, sagte sie zu Fredrik, und ihre Hände seien ganz kalt. Sie würde wieder reingehen.
Auf ihrem Zimmer tauschte Kirsten die Speicherkarten in der Kamera aus, so dass sie über den Wiedergabemodus die gespeicherten Bilder
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