Ins Eis: Roman (German Edition)
Kristoffers Flugticket, die Bestätigung der Hotelbuchung, der Reiseversicherung und Quittungen von einer Bootsfahrt sowie der Ausleihe von Sicherungsausrüstung. Letztere hatte das Büro des Gouverneurs wohl an die Verleihstelle zurückgegeben, weshalb Kirsten unter anderem nirgends das dort erwähnte Gewehr, den Notpeilsender oder die Signalpistole entdeckt hatte, die Kristoffer auf seinen Touren mit sich hatte führen müssen. Sie legte die Unterlagen neben sich und blätterte weiter. Eine Büroklammer hielt einige ausgedruckte Internetseiten mit Routenvorschlägen zusammen. Als Nächstes folgten, ebenfalls von Klarsichtfolie geschützt, ein Brief des Gouverneurs an Kristoffer und ein Brief der Kohlefirma Store Norske. Beide waren in Norwegisch geschrieben, einige Wörter konnte Kirsten jedoch ohne Wörterbuch enträtseln, wiederholt tauchte der Name Fredrik Stolt auf. Angeheftet an den Brief von Store Norske fand sich ein hochaufgelöster Computerscan einer alten Fotografie mit verblassten Farben. Sie zeigte eine Feier, bei der ein lachender, junger Fredrik in Kleidern im Stil der späten Siebziger mit einem Glas Sekt inmitten einer Gruppe Männer posierte. Offenbar hatte Kristoffer mit seinen Recherchen zu Fredriks Leben Fortschritte gemacht. Sogar einen Artikel auf Englisch über die Minenarbeiter, die in den fünfziger Jahren nach Spitzbergen gekommen waren, hatte er aufgetan. Der Artikel erwähnte Fredrik nicht persönlich, gab jedoch ein gutes Bild der damaligen Lebens- und Arbeitsumstände in Longyearbyen.
Kirsten klappte die Mappe zu und seufzte. Sie sah sich auf dem Doppelbett um. Wie Strandgut lagen die Gegenstände um sie verstreut. Den Roman Atlas Shrugged von Ayn Rand hatte Kristoffer von Fredrik geschenkt bekommen. Den Reiseführer hatte er während seiner Reisen nach Spitzbergen immer bei sich geführt, entsprechend mitgenommen sah das Buch aus. Kirsten nahm es und schlug es wahllos auf.
Die zusammengefaltete Kopie eines Zeitungsartikels rutschte zwischen den Seiten heraus und fiel aufs Bett. Kirsten faltete das Blatt Papier auseinander.
Der Artikel war vom 6. April 1981. Ursprünglich musste er in der Zeitung fast eine ganze Seite eingenommen haben; die Kopie war verkleinert. Nach dem, was Kirsten aus dem Bild und einigen Worten in der Überschrift schließen konnte, handelte er von einem Minenunglück. Das Foto zeigte Männer mit rußverschmierten Gesichtern vor einem barackenartigen Gebäude. Ein Mann, die Kleider ebenfalls von Dreck bedeckt, stand vornübergebeugt und wurde von einem anderen Mann im Anzug gestützt. Der erschöpfte Mann war nur im Profil zu erkennen, doch die Bildunterschrift nannte seinen Namen: Fredrik Kristoffer Stolt. Neben dem Text fanden sich ein paar Wörter in Kristoffers nachlässiger Handschrift; sie waren mit einem Ausrufezeichen versehen.
Kirsten hatte niemals einen Stolt ein Ausrufezeichen benutzen sehen.
»Jonas, hat dir Opa mal erzählt, dass er in einer Mine verschüttet worden ist?«, fragte sie nachdenklich. Der Junge schaute sie groß von der anderen Seite eines schwankenden schiefen Bauklotzturms an und schüttelte den Kopf.
Ein weiteres Rätsel. In Spitzbergen wurden Leichen nicht begraben, weil der Permafrostboden früher oder später alles wieder an die Oberfläche beförderte, hatte Kirsten gelernt. Eine Regel, die offenbar auch für die Vergangenheit der Männer der Familie Stolt galt.
Kirsten klappte erneut die Mappe zu, nahm sich Odas Agenturflyer und rief die aufgedruckte Nummer an. Sie musste es lange klingeln lassen, bevor sich eine Mitarbeiterin meldete. Kirsten bat um Tims Handynummer.
Zwei Stunden später saßen sie, Jonas und Tim zusammen über den Resten eines späten Mittagessens. Jonas hatte sich Kirstens MP3-Player ins Ohr gesteckt und lauschte einem Hörbuch. Das dazugehörige Bilderbuch nahm die Hälfte des Tischs ein.
»Du hast recht, der Artikel handelt von einem Minenunglück, bei dem mehrere Männer verschüttet wurden.« Tim tippte mit der Fingerspitze auf das Bild. »Die meisten waren einfache Arbeiter, aber ein leitender Angestellter der Firma war darunter: der Ingenieur Fredrik Stolt. Der Artikel erwähnt eine Explosion und den Einsturz eines Schachts. Die Männer waren achtundvierzig Stunden lang verschüttet. Bis auf zwei, die vermutlich von herabstürzenden Steinen erschlagen wurden, konnten alle gerettet werden. Hier steht, Fredrik Stolt habe für einen Kommentar leider nicht zur Verfügung gestanden, er sei zusammen
Weitere Kostenlose Bücher