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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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Norwegens Geschichte und Wirtschaft erzählen konnte. Allerdings war er auch älter als Kristoffer gewesen, als sie damals im Schlepptau Fredriks Skandinavien verlassen hatten. Erland hatte fast seine gesamte Schulzeit in Bergen verlebt. Er gab unumwunden zu, es damals gehasst zu haben, nach Deutschland auszuwandern. Er hatte seiner Mutter nahegestanden, nach ihrem Tod wäre er am liebsten davongerannt. Sein Vater hatte seine Entscheidung nicht mit den Söhnen diskutiert; überhaupt hatte er immer alle Entscheidungen allein getroffen, das war zu Lebzeiten der Mutter nicht anders gewesen. Kirsten fragte Erland, ob er denn tatsächlich einmal davongerannt sei. Nein, erwiderte der, er nicht, aber Kristoffer. Als die Polizei ihn zurückbrachte, habe Fredrik den Ausreißer bloß gefragt, was er gelernt habe. »Ich habe gelernt, wie man Fischernetze zusammenlegt«, hatte Kristoffer geantwortet, seine blasigen und aufgerauten Hände vorzeigend, denn so hatte er während seines zweitägigen Abenteuers sein Essen verdient. Fredrik hatte gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. Drei Tage später hatte eine Fähre sie für immer von Norwegen fortgebracht.
    »Kannst du diese Geschichte später noch Jonas erzählen?«, bat Kirsten. Ihr Sohn saß zwei Bänke hinter ihr und sang mit seiner Tante Monika ein Lied. »Oder besser noch, sie für ihn aufschreiben, damit sie nicht vergessen wird?«
    Sichtbar bewegt versprach Erland, dies zu tun. »Er fehlt mir«, sagte er, »Kristoffer. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, diese Woche mit ihm verbringen zu können.«
    Kirsten wollte die Gelegenheit nutzen, um ihn nach dem Notizbuch zu fragen, aber dann sagte ihr Schwager etwas, was sie ihre Frage für den Moment vergessen ließ.
    »Papa«, sagte Erland leise, so dass nur sie es hören konnte, »er hätte ehrlicher mit uns sein müssen. Dann wäre Kristoffer vielleicht nicht zu dieser verdammten Reise aufgebrochen, um hier auf Fredriks Spuren zu wandeln.«
    Er verstummte, drehte den Kopf in Richtung Seitenfenster und schien nicht mehr zu hören, als Kirsten ihn ebenfalls flüsternd fragte, wie er das meinte.
    Vom Tal aus betrachtet erinnerte die Grube 7 an die industrielle Düsterkeit alter Science-Fiction-Filme. Finster hoben sich die Bauten gegen den unter grauen Wolken dahintreibenden Schnee ab: quaderförmige, teils auf Stelzen an den Hang gebaute Häuser, Schlote, Silos und Transportbänder. Erst aus der Nähe gewannen die Bauten ein wenig an kühler Freundlichkeit. Autos parkten vor dem Hauptgebäude, durch die Fenster des Nachbargebäudes drang Licht. Aus einem der Schlote stieg heller Rauch in den Himmel und verflüchtigte sich unterhalb der Wolkendecke.
    Im Hauptgebäude erhielten die Besucher zunächst eine Tasse Kaffee und eine kurze Einführung in die Geschichte des Kohlebergbaus auf Spitzbergen. Außerdem wurden sie mit Schutzanzügen, lampenbewehrten Helmen und Feinstaubmasken versorgt. Ein Mitarbeiter demonstrierte die Anwendung eines Selbstretter-Atemgeräts, was Kirsten an den Artikel über Fredriks Unfall Anfang der achtziger Jahre erinnerte. Während ihr Grubenführer – ein drahtiger Norweger, der Fredrik mit Handschlag begrüßt hatte – den geologischen Aufbau des Berges erläuterte, zupfte sie Fredrik am Ärmel und fragte ihn flüsternd, ob er denn schon einmal einen solchen Sauerstoff-Selbstretter im Notfall benutzt habe. Fredrik schüttelte den Kopf, dann legte er einen Finger auf die Lippen und mahnte sie zum Zuhören.
    Der Grubenführer berichtete, Grube 7 sei die letzte sich noch in Betrieb befindende Grube in Longyearbyens direkter Umgebung. Eigentlich führten sie momentan keine Touristengruppen, aber für einen ehemaligen Mitarbeiter machten sie selbstverständlich gerne eine Ausnahme. Er hoffe nur, die Gesellschaft rechne damit, etwas dreckig zu werden.
    Fredrik hatte sich nach seiner Ermahnung von Kirsten abgewandt und seiner Frau einen Arm um die Taille gelegt. Er flüsterte etwas in ihr Ohr, woraufhin sich die leicht angespannt wirkende Elisabeth um ein Zwinkern bemühte. »Bin ich die erste Frau, die dir in eine Kohlemine folgt?«, fragte sie. Fredrik befestigte den Riemen ihres Helms unter ihrem Kinn, während er erwiderte, ja, das sei sie. Zärtlichkeit und Stolz schwangen in seiner Stimme mit, und Kirsten begann zu verstehen, weshalb ihm dieser Programmpunkt so wichtig gewesen war.
    Der Grubenführer fuhr fort in seinen Erläuterungen. Sollte einer der Besucher ein starkes Gefühl der Beklemmung

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