Ins Eis: Roman (German Edition)
Mann musste während der Arbeit knien, so tief hing der Fels. Die reflektierenden Streifen seines roten Anzugs strahlten auf unter den Blitzen aus Hartmuts Kamera. Als Kirsten eine Hand an die Decke legte, spürte sie Vibrationen.
Die anderen gingen weiter, während sie zurückblieb, um ihre Feinstaubmaske vor dem Mund zurechtzurücken. Ein leises Knacken im Gestein des Stollens brachte ihr Herz zum Galoppieren. Abermals presste sie beide Hände gegen das Hangende über ihrem Kopf. Der Lampenschein der anderen hatte sich entfernt, sie stand allein neben der Maschine im Schatten der Funzeln. Im Geiste sah sie eine Vorstellung von sich selbst, ein zierlicher weiblicher Atlas unter der Erde, der die Welt auf seinem Rücken trug. Das Bild entlockte ihr ein nervöses Lachen. In diesem Moment drehte sich der Arbeiter, der Kirsten bislang hinter der Maschine den Rücken zugewandt hatte, um. In der Hocke stapfte er an der Maschine vorbei auf sie zu, den für die Enge viel zu gewaltigen Rumpf fast im Neunzig-Grad-Winkel nach vorne geneigt. Die Hände baumelten wie riesige Pfoten vor ihm hinab, die Fingerspitzen glitten knapp über dem Boden des Schachts dahin, von keinen Handschuhen geschützt, schwarz von Staub. An seiner Figur identifizierte Kirsten den Mann, bevor sie sein Gesicht unter dem Helm erkannte.
Es war der Hüne vom Flughafen. Den sie das zweite Mal im Auto und ein drittes Mal mit Ingrid im Café gesehen hatte.
Sie zuckte so stark zusammen, dass ihr vom Helm geschützter Kopf gegen die Decke prallte. Sie stolperte zurück, bis die Stollenwand ihr den Weg versperrte. Der Hüne kam weiter auf sie zu, trotz seines zum Watscheln verkommenen Hockergangs erstaunlich behände. Er öffnete den Mund, knurrte etwas. Sie sah seine Zähne, weiß in dem dreckigen Gesicht mit dem struppigen Bart. Sie floh.
Ihre 1,60 Meter Körpergröße erlaubten ihr, wenn auch gebückt, zu rennen. Weiter den niedrigen Stollen entlang, fort von der Maschine und dem grobschlächtigen Gesicht mit den wütenden Augen, dem Lichtschein nach, der ihr den Weg zu Fredrik und den anderen wies. So aufgewühlt war sie, dass sie zu spät bremste und in den Hintersten der Gruppe hineinlief. Es war Peter, der sie auffing und besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei. Vor lauter Panik ging ihr Atem so schnell, dass sie zunächst kein Wort herausbrachte, was Peter eigenständig interpretierte.
»Keine Sorge«, sagte er, beruhigend über ihren Rücken streichend. »Es hieß gerade, wir würden jetzt umdrehen. Mir geht’s ähnlich wie dir, ich glaube, ich krieg bald keine Luft mehr.«
Kirsten schüttelte den Kopf, hustete und war froh über den festen Griff seiner Hand auf ihrem Arm. Sie warf einen Blick hinter sich, aber dort war nichts zu sehen, kein Troll, kein Schatten, nichts außer dem unendlichen Gewicht des Berges. Als sie den Blick wieder nach vorne wandte, starrte Elisabeth sie an. Im Licht der Höhlenlampen leuchteten ihre Augen eisig hell.
Nach einem späten Mittagessen, bis zu welchem sich das Wetter deutlich gebessert hatte und Spitzbergen begann, sich von seiner Winterurlaubsseite zu zeigen, versammelten sich alle in einem Seminarraum im Nachbargebäude des Hotels. Ein Beamer und ein Computer standen auf dem Tisch in der Mitte und projizierten ein Foto Longyearbyens an die Wand. Kirsten setzte sich auf einen freien Platz und sprang gleich wieder auf, weil Jonas verschwunden war. Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen; ein Blick aus einem der Fenster verriet ihr den Verbleib des Jungen: Das Agenturauto hatte auf dem Parkplatz geparkt und Oda, Tim und Bridgestone ausgespuckt. Jonas zerrte an Tims Jacke, um die Aufmerksamkeit seines neuen Idols auf sich zu ziehen, den anderen Arm hatte er um Bridgestones Hals gelegt. Oda nahm den Hund an die Leine, und zusammen betraten sie das Gebäude.
Die Gruppe an der Tür teilte sich sofort, als der große dunkle Rüde im Raum erschien, die Gespräche verstummten. Tim nickte Kirsten grüßend zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er hatte sich rasiert. Kirsten fing seinen Blick auf und strich sich demonstrativ über die Wangen. Tim grinste schief, dann schlang er die Arme um sich und tat so, als würde er frieren. Erland, der neben Kirsten saß, beugte sich zu ihr und sagte: »Ich sehe, du hast hier schon Freundschaften geschlossen.« Es klang vorwurfsvoll. Als ob sie Kristoffer allein durch ein Lächeln und einen Blick verraten würde. Kirsten biss sich auf die Zunge und erwiderte, sie
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