Ins Eis: Roman (German Edition)
Rabenmutter der Familie nutzt ihre Chancen.«
»Wer sagt das?«
»Die Kunst ist, schnell genug zu verschwinden, bevor man es hört und darauf reagieren muss. Jonas war ein wenig beleidigt, aber er vergöttert Monika. Die beiden werden super zurechtkommen. Meine Güte, was ist das auch für ein schöner Tag!« Sie hüpfte vor Freude auf und nieder. Ihre weit ausholende Armbewegung umfasste die klare Luft und den sich aus der Nacht in den Tag kämpfenden, wolkenlosen Himmel, in dessen Blau sich Violett mischte. Es war nicht einmal neun Uhr am Morgen, die Straßenbeleuchtung brannte noch und zauberte eine Perlenschnur aus Lichthöfen auf Wege und Straßen. Kirsten fragte Tim, was das Thermometer sprach.
»Minus vierundzwanzig Grad.«
Nicht einmal das konnte ihrer Laune einen Dämpfer verpassen. Als sie zwanzig Minuten später bei der Agentur hielten, stieg gerade Ingrid aus einem zweiten Auto, eine Tasche über den Schultern. Die Ärztin beugte sich durch das Fahrerfenster, um ihrem Mann einen langen Abschiedskuss zu geben. Sie freute sich Kirsten zu sehen. »Siehst du«, rief sie Trond lachend zu, bevor dieser wendete und davonfuhr, »jetzt bin ich doch nicht allein unter lauter Männern.«
Kirsten hatte ihre gesamte Oberbekleidung noch von den letzten zwei Touren zusammen; selbst der Rest der Ausrüstung, der für Peter zusammengesucht worden war, musste bis auf kleinere Hüttenschuhe nicht geändert oder ergänzt werden. Oda und eine Kollegin hatten bereits begonnen, die Schlitten mit Gemeinschaftsgepäck – Zelten, Kochausrüstung, Futter für die Hunde – zu beladen; es fehlten bloß noch die Schlafsäcke, Isomatten, Beutel mit Schokolade, Keksen und Müsliriegeln für den Tag, Thermoskannen und Seesäcke mit Wechselkleidung, persönlichem Bedarf und Fotoausrüstung. Zum Schluss reichte Oda Kirsten noch eine kleine Tüte mit flachen, in Plastik verschweißten Beuteln.
»Gegen die Kälte«, erklärte sie. »Am besten ist, du stopfst dir gleich jetzt zwei davon in deine Handschuhe. Hier, du reißt einfach die Päckchen auf – du siehst, das sieht so ähnlich aus wie Teebeutel – und wartest ein wenig. Die Beutel erzeugen Wärme durch einen Oxidationsprozess, sie brauchen also Sauerstoff, um warm zu werden, deshalb dauert es ein wenig. Die Dinger wärmen mehr als sieben Stunden lang.«
»Was ist mit uns?«, fragte Fredrik. »Bekommen wir Männer keine dieser Wunderbeutel?«
Er war nun ins Englische gewechselt, damit Ingrid, die ebenfalls ein paar Wärmekissen in Empfang nahm, der Unterhaltung folgen konnte. Oda zuckte mit den Achseln. »Jederzeit, wenn ihr sie wollt.« Sie stopfte jedem ein paar in die Jackentasche. Tobias schien unschlüssig, ob er sie wie Kirsten sofort auspacken und verwenden sollte.
»Warte lieber erst mal ab«, meinte Kirsten. »Ich selbst produziere nun einmal so gut wie keine Wärme, und das bisschen gelangt nicht bis in meine Extremitäten. Das schwache Herz der Frauen, wenn du verstehst. Es pumpt nicht stark genug.«
Hartmut behauptete, das erkläre so einiges.
Kirsten bekam tatsächlich dasselbe Hundegespann wie bei ihrer letzten Tour. Vega schnüffelte ausgiebig an ihren Handschuhen, die anderen drängten sich gegen ihre Beine. Nordy stellte sich auf die Hinterbeine, stellte die Vorderpfoten auf Kirstens Bauch ab und versuchte, ihr das Kinn zu lecken. »Machen sie das bei jedem Touristen, oder darf ich mir was darauf einbilden?«, fragte sie Tim.
»Hunde wissen schon, wer ein gutes Herz hat.« Tim korrigierte den Sitz von Vegas Geschirr. Die Hündin wand sich unter seinen Händen genüsslich wie ein Welpe. In Kirstens Ohren klang sein Satz altmodisch – ein gutes Herz, wer sprach heute noch so? Doch es freute sie. »Was ist, wenn sie einen nicht mögen?«
Tim strich sich mit dem Ärmel über die Stirn, trotz der Minusgrade war das Einschirren eine schweißtreibende Aufgabe. »Wenn sie einen nicht leiden können, benehmen sie sich blöd. Wollen nicht laufen, legen sich hin, machen irgendeinen Unsinn. Das passiert schon mal, aber das kann man einem Gast ja schlecht erklären. Schon gar nicht, wenn man denkt, dass die Hunde recht haben.« Er hob die Stimme. »Ihr könnt euch jetzt fertig machen, in fünf Minuten starten wir.«
Kaum näherte sich Tim den Ankern, die seinen Schlitten hielten, und schloss dabei seine Jacke, verstanden die Hunde dies als Signal zum Aufbruch. Sie sprangen auf. Gebelle und Gejaule hoben an, die Ankerseile strafften sich, Schlitten ruckten unter
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