Ins Eis: Roman (German Edition)
geballten Hundestärken. Fredrik und Kirsten ergötzten sich am ausbrechenden Tumult, Erland und Tobias zückten eilig ihre Kameras. In der Zwischenzeit brachte Oda Tim ein Gewehr. Anders als bei Kirstens letzten Ausflügen steckte die Waffe nicht mehr in einer länglichen Plastikhülle. Lauf sowie hölzerner Schaft lagen nunmehr frei, einzig in der Mitte schützte eine Art Manschette Abzug und Magazin. Ein neonorangenes Säckchen mit Klettverschluss verhüllte die Mündung, ein zweckentfremdetes, von Mushern Bootie genanntes Schutzsöckchen für die Pfoten der Hunde bei Eis und verharschtem Schnee. Tim nahm das Gewehr entgegen, löste probehalber die Klettverschlüsse zum Kontrollieren der Waffe, dann stellte er die Länge des Riemens ein, damit er es sich bequem über den Rücken hängen konnte. Unvermittelt stand Erland neben ihm. Kirsten, nur wenige Meter entfernt, trat ein wenig näher, um über den Lärm der Hunde hinweg hören zu können, was sie sprachen.
Erland wollte sich das Gewehr ansehen. Tim lehnte ab. Nach allen Vorbereitungen war es mittlerweile elf Uhr geworden, sie mussten los. »Später«, sagte er, »heute Abend haben wir noch genügend Zeit.«
»Was für ein Kaliber ist es?«, bohrte Erland nach. »Und wie viele Schuss?«
»Diese hier ist eine 12/70er mit acht Schuss im Magazin. Das brauchen wir hier, damit auch nach ein paar Warnschüssen noch was übrig ist – für den Fall, dass ein Bär sich nicht verscheuchen lässt.«
»Und du wirst sie immer bei dir tragen?«
Tim erklärte, er würde das Gewehr während des Fahrens immer am Körper tragen, denn sollte er vom Schlitten fallen, würden die Hunde einfach weiterlaufen. »Die halten nicht von selbst an. Wenn du Pech hast, liegt ein längerer Fußmarsch vor dir, bis der Schlitten womöglich umkippt und die Hunde zum Stehen zwingt. Das ist schon unangenehm genug, aber du willst dann nicht auch noch im falschen Moment ohne Schutz sein, oder?«
Sie brachen auf.
Das Basiscamp, das an diesem Tag ihr Ziel markierte, lag etwa 30 Kilometer von Longyearbyen entfernt. Sie starteten nach Osten, entlang Adventdalen, ein zu Beginn breites Tal, das sich nach einigen Kilometern in Richtung Landesinnere zu verengen begann. Kirstens Schlitten glitt hinter Tim dahin, der die Gruppe mit seinem Zehner-Team anführte. Doppelt so lang wie die anderen Schlitten und dazu noch schwer beladen, ähnelte Tims Schlitten mehr einem Schlachtschiff denn einem Hundeschlitten. Dennoch musste er sein Team am Anfang sogar bremsen, bis die Hunde ein gleichmäßiges, nicht allzu schnelles Tempo hielten, welches sie den ganzen Tag über durchhalten konnten. Hinter Kirsten folgten Tobias, Erland, Hartmut, Fredrik und am Schluss Ingrid mit einer dreieckigen Tasche über den Schultern: Tim hatte ihr die Signalpistole anvertraut.
Trotz der tiefen Temperaturen war es Kirsten anfangs nicht kalt. Das Bepacken der Schlitten, das Hundeeinschirren, der aufregende Start, das alles hatte ihren Kreislauf in Schwung gebracht. Sie hatte sich ihre Gesichtsmaske übergestülpt, darüber trug sie die Schneebrille und ihre Mütze. Abgesehen von Tim und Ingrid, die anfangs ohne Gesichtsmasken fuhren, hatten die anderen in der Gruppe es ihr gleichgetan, weshalb die Stolts und Warthenbergs nun wie Astronauten von einem fernen Planeten aussahen, ganz in Schwarz gekleidet mit ein paar weißen reflektierenden Streifen an den Handgelenken und Knöcheln. Im Grunde waren sie nur noch durch ihre Figuren zu unterscheiden, doch die steckten in dicken Kleiderschichten.
Im Laufe des Vormittags änderte sich das Licht. Die Sonne kroch, unsichtbar für sie, jenseits der Berge über den Horizont und beleuchtete die Gipfel auf der nördlichen Talseite. Die Schattengrenze wanderte tiefer, bald glommen die Berghänge bis zur Hälfte rosa. Der Himmel präsentierte sich in schwach geschichteten Farben, von unten verwaschen hell bis zum reinen Azur direkt über ihnen. Im Schatten der Täler behielt der Schnee den ganzen Tag über einen bläulichen Glanz. Bis sie eine Mittagspause einlegten, hatten sich die flach-ovalen Wolken in Form von Ufos, die Kirsten schon kannte, an den Himmel gesellt. Die Männer waren begeistert. Alle packten Fotoapparate und Kameras aus. Ingrid hatte sich auf ihren Schlitten gelegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick in Richtung Berge gerichtet. Die Teams standen während der Pause eines hinter dem anderen, jeder Hundeschlitten gesichert von zwei Ankern am Schlittenende und
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