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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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Geschirre aus und verstauten sie sicher am Schlitten. Die Bewegung tat Kirsten gut. Probehalber wackelte sie mit den Zehen, selbst ihre Finger fühlten sich wieder besser an. Sie beruhigte sich. Bis kribbelnder Schmerz zum Leben erwachte. Erst in ihrem rechten Fuß, dann im linken, kurz darauf auch in den Fingern beider Hände. Das Gefühl glich dem Eintauchen ausgekühlter Gliedmaßen in viel zu heißes Badewasser. Allerdings entfaltete sich der Schmerz nicht von außen, sondern von innen, wie heißes Quecksilber, das die Adern entlang in ihre Finger- und Zehenspitzen schoss. Mit dem Schmerz kehrte die Furcht zurück.
    Die anderen hatten sich in der Zwischenzeit um Tim versammelt, der verkündete, was als Nächstes auf dem Programm stand: Er wollte, dass die Gruppe übte, die Zelte für die übernächste Nacht aufzubauen. Hier im Tal waren die Bedingungen gut, es gab keinen Wind, und die Dunkelheit würde noch über eine halbe Stunde auf sich warten lassen. Übermorgen konnten die Umstände hingegen ganz anders sein. Sie würden das Gemeinschaftszelt und das kleinste der Expeditionszelte aufbauen, das sollte zu Übungszwecken genügen. Das Gemeinschaftszelt würden sie direkt danach wieder abbauen und auf den Schlitten verstauen, im Expeditionszelt würde er selbst in dieser Nacht schlafen.
    »Wenn mir die Finger und Zehen wehtun«, platzte es aus Kirsten heraus, »ist das eher ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«
    »Das ist ein gutes Zeichen, keine Sorge«, antwortete Ingrid, ohne jedoch Anstalten zu machen, einen ärztlich-professionellen Blick auf Kirstens Hände zu werfen. Die Männer zerstreuten sich, schleppten die Beutel mit den Zeltmaterialien herbei und suchten sich eine Stelle, um die Zelte aufzubauen. Tim gab ihnen ein paar Anweisungen, dann machte er sich daran, den Schnee vom Dach des Basiscamps zu kehren und – wie Kirsten inständig hoffte – den Ofen im Inneren anzuschüren.
    »Ich glaube, meine Fingerspitzen sind gefühllos.«
    »Ja, das kann ein paar Tage anhalten.« Ingrid lächelte. Eigentlich hätte das Lächeln Kirsten beruhigen sollen, aber vor ihrem inneren Auge sah sie bereits, wie sich schwarze Hautfetzen von ihren Fingerspitzen schälten. Auf einmal fand sie diese Tour überhaupt keine gute Idee mehr.
    »Lass nur, Kirsten!«, rief Fredrik, als sie sich zögernd den Männern näherte. »Sorg erst einmal dafür, dass du warm wirst. Wir machen das hier schon.« Tobias und Erland trampelten derweil mit erstaunlichem Enthusiasmus den Schnee flach. Auch die Männer gaben zu, unterwegs kalte Zehen und Finger gehabt zu haben, doch von ihnen hatte keiner ernste Probleme.
    Tim drückte Kirsten einen Spaten in die Hände und schlug vor, sie solle anfangen, eine Toilette zu graben, das würde sie wärmen und ablenken. Sie fragte ihn, wie kalt es sei. Tim zeigte ihr das Thermometer: minus einunddreißig Grad. »Schlimmer wird es nicht werden, keine Angst. Das mit den Schmerzen in den Fingern wird nicht lange andauern, vertrau mir.«
    Tim wies Kirsten an, an den Hunden entlang in Richtung Talende zu gehen. Fünfzehn Meter hinter dem letzten Schlitten solle sie sich nach links wenden. Dort, kurz vor dem Hang, könne sie einen unregelmäßigen Haufen sehen, das sei eine ältere Toilette. Zuletzt gab er ihr noch den Rat, doch lieber hinter der alten Toilettenstelle zu buddeln, sofern sie nicht unliebsame Schätze entdecken wolle.
    Mit den unförmigen Handschuhen hatte Kirsten Mühe, den Spatenstiel zu umfassen, aber das Letzte, was sie jetzt tun würde, war, die Überhandschuhe auszuziehen. Der Gebrauch der Hände, des wichtigsten Werkzeugs des Homo sapiens – ausgebremst. Die Möglichkeit, jeden Griff zu tätigen, nach dem ihr gerade der Sinn stand. Fotografieren. Die Mütze zurechtrücken. Sich Haare aus dem Mund streichen. Einen Schokoriegel essen. Ein Taschentuch benutzen. Die kleinen selbstverständlichen Dinge. Sie schlug ein weiteres Mal die Hände gegeneinander, gegen die eigene Hysterie anschimpfend.
    Unerwartet tauchte Hartmut an ihrer Seite auf. »Vielleicht hättest du doch lieber bei deinem Sohn bleiben und auf die Damentour gehen sollen, Kirsten«, bemerkte er, während er sich an ihr vorbeischob. »Ich weiß wirklich nicht, was du hier willst.«
    Es war Hartmuts gehässiger Tonfall, der Kirsten aus ihrem Kokon des Mit-sich-selbst-beschäftigt-Seins riss. Ihre Zehen und Finger kribbelten weiterhin, als ob sich ein Heer roter Waldameisen durch sie hindurchbiss, aber ihr Geist wandte

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