Ins Eis: Roman (German Edition)
waren ihre Spuren? Alles verschwand jenseits eines Kreises aus wenigen Metern in einem Wirbel aus Nacht und vor ihr fliehenden Schneesalven.
Verloren , flüsterte der Wind.
Kirsten machte ein paar zaudernde Schritte in die Richtung, die ihr am wahrscheinlichsten schien, und blieb stehen. Jetzt bloß keine Dummheit begehen. Beruhig dich, du bist nah beim Lager. War da eine Bewegung am Rande ihres Lichtscheins?
Sie rief. Zu leise. Sie räusperte sich, rief lauter. Nach Tim, nach Fredrik. Der Wind riss die Namen von ihren Lippen und trug sie davon, fort vom Lager. Aber die Hunde mussten sie trotzdem hören, oder nicht? Wieso konnten sie nicht zu bellen anfangen, Zeichen geben, dass ein Mensch in Schwierigkeiten war?
Bei Erlands Tod hatten sie auch geschwiegen.
Kirsten schrie.
Ihre Finger waren noch kalt vom erfolglosen Hantieren mit den Streichhölzern. Sie trug lediglich ihre Fleecehandschuhe, zu wenig, um die Finger warm zu bekommen bei unter minus zehn Grad. Sie tastete ihre Taschen ab auf der Suche nach einer Trillerpfeife, aber da war keine. Die Streifen an ihren Ärmeln reflektierten im Schein der Lampe. Nutzlos.
Konzentrier dich, denk zurück, Schritt für Schritt. Sie hatte sich der Toilette von rechts genähert. Sie lief in diese Richtung. Blieb stehen. Sie sah nichts. Der Schnee wirbelte um sie herum, mal frontal von vorne, dann von schräg links. Welcher Windrichtung sollte sie folgen? Auf dem Herweg hatte sie den Wind direkt im Rücken gehabt. Sie kämpfte sich auf den Hügel über der Toilette, rutschte zwei Schritte zurück, sobald sie einen nach vorne machte, paddelte mit rudernden Armen weiter, holte tief Luft, als sie endlich die niedrige Kuppe erreichte, und schrie ein weiteres Mal.
Ihre Stirnlampe flackerte und erlosch. Kirsten schlug so hart gegen das Plastikgehäuse, dass sie es in ihre Stirn drückte. Die Lampe strahlte auf, verglomm sofort wieder. Kirsten drückte sie gegen ihre Stirn, und abermals erhellte das Leuchten die Schneeflocken im Wind. Blieb.
Ihr Herz schlug so heftig, dass sogar ihre Finger wieder warm wurden. Ihr Mund stand offen, sie hörte auf zu atmen, denn ohne Atem konnte sie besser hören. Sie lauschte.
Sie hörte nichts außer dem Rauschen der Stille in ihren Ohren.
Wie oft hatte sie ein panisches Pferd beruhigt? Sie schlang die Arme um sich, stopfte die Hände unter ihre Achseln und presste die Ellenbogen an sich, bis sie den Druck auf ihren Rippen fühlte. Kristoffer hatte sich manchmal hinter sie auf die Couch gesetzt, auf die Lehne, seine angewinkelten Beine hatten ihren Oberkörper sanft eingezwängt, während seine Finger in ihre Haare fuhren, suchend, massierend, zunehmend fordernd, dem Druck seiner Schenkel angepasst. Mit Jonas war das Spiel anders gewesen, er auf ihrem Rücken, sie auf allen vieren, den johlenden, Cowboyhut tragenden Reiter warnend, er solle sich mit den Schenkeln festklammern, während sie zu bocken begann und ihn abwarf, egal wie oft er wieder auf sie kletterte. »Noch mal, Mama!« Einmal war er mit dem Kopf gegen einen Stuhl geschlagen. Sie hatte der Beule beim Anschwellen zuschauen können, er hatte geweint. Sie hatte gesagt, wenn ihn ein Pferd abwerfe, sei es das Beste, sofort wieder aufzusteigen, was bescheuert gewesen war, denn er hatte ja keine Angst, er hatte bloß Schmerzen. Die Angst war Kirstens Metier. Seltsam, hatte Fredrik sie vor wenigen Tagen nicht als »angstfrei« bezeichnet? Doch selbst Fredrik konnte nicht in das Innere eines Menschen blicken, schon gar nicht in das seiner Söhne, und jetzt war es zu spät.
Vor Kirsten tauchte das Licht einer Stirnlampe auf, ein tanzender Fleck Blau-Weiß als Krönung eines Körpers, vor dem ein zweiter sich durch den Schnee kämpfte, dieser nicht angewiesen auf menschliche Technik, um seinen Weg zu finden.
Bridgestone schien nicht allzu begeistert davon, dass Tim ihn aus seiner bequemen Schneehöhle gerissen hatte, doch immerhin wedelte er mit dem Schwanz, während er Kirsten zur Begrüßung die Schnauze zwischen die Oberschenkel steckte. Kirsten versenkte die Finger in sein dichtes Fell und hätte vor Erleichterung beinahe geheult.
»Alles in Ordnung?«, fragte Tim besorgt. »Ingrid hat mich geweckt. Sie hat sich Sorgen gemacht, weil du so lange gebraucht hast. Ich habe dich rufen hören.«
»Ich war mir nicht mehr sicher, wo genau es zum Lager zurückgeht. Es sah alles gleich aus. Da bin ich einfach geblieben, wo ich war, und habe nach euch gerufen.«
»Eine gute Entscheidung.«
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