Ins Eis: Roman (German Edition)
Kirsten in ihre Hose, Jacke, griff nach Handschuhen, Toilettenpapier und Streichhölzern. Ihre Stiefel standen im Vorraum des Zelts. Während sie im Licht der Stirnlampe hineinschlüpfte, rieselte ihr Raureif von der Zeltdecke direkt in den Nacken. Kirsten schauderte, sie schlug die Kapuze hoch, dann trat sie nach draußen.
Es war zwei Uhr am frühen Morgen, tiefste polare Nacht. Der Schneefall hatte nicht nachgelassen, im Gegenteil, er peitschte beinahe waagrecht über das Land, beschränkte die Sicht auf wenige Meter. Kirsten stapfte los, durch den Schnee, in dem jegliche Spuren verwehten, eine jungfräuliche Oberfläche, die ihre Unschuld hinter Kirsten rasch wieder zu reparieren begann, die scharfen Kanten ihrer Fußtritte rundete, einebnete und binnen einiger Minuten vergessen machen würde. Sie ging an den zwei anderen Tunnelzelten vorbei, bis links von ihr der düstere Schatten des Gemeinschaftszelts auftauchte und davor Tims Schlitten. Bei ihrem Versuch, einen möglichst großen Bogen um das Zelt zu schlagen, sackte Kirsten bis zum Knie im Tiefschnee ein. Alles um sie herum war still bis auf das Tosen des Windes. In keinem der anderen Zelte brannte Licht, der Schein ihrer Stirnlampe verlor sich in der Nacht. Sie erreichte die lange Kette von Tims Zehner-Team. Die Hunde waren unter Schneehaufen verschwunden, flache rundliche Hügel, aus denen nur hier und da ein Fetzen Fell hervorschaute, eine Schnauze, ein Rücken. Keiner der Hunde rührte sich, während Kirsten an ihnen vorbeistapfte. Sie fragte sich, ob sie überhaupt merken würden, wenn sie auf der Toilette von einem Eisbären überrascht würde, oder ob die Tiere einfach seelenruhig weiterschlafen würden, vergraben unter dem Schnee, der freundlicher zu ihnen war als zu den Menschen. Es war kein beruhigender Gedanke, vor allem da der Wind vom Lager in Richtung Toilette wehte. Wie gut war eigentlich der Geruchssinn eines Hundes?, fragte sie sich. Auf Höhe der Leithunde murmelte sie in Richtung zweier ovaler Schneehaufen: »Bridgestone, ich kann mich auf dich verlassen, oder? Du passt schon auf, dass mich kein Eisbär vom Klo pflückt, nicht wahr?« Sie bildete sich ein, ein Ohr unter dem Schnee zucken zu sehen, aber das war auch alles. Kirsten blinzelte in den von ihr forttreibenden Schnee. Irgendwo dort vorne rechts musste die Toilette sein, von einem erkennbaren Weg dahin keine Spur.
Sie lief ein paar Schritte weiter. Erhebungen tauchten vor ihr auf; Ingrid hatte gesagt, sie habe die Toilette im Windschatten eines Hügels geschaufelt. Kirsten umrundete eine der Erhebungen, sackte abermals bis zum Oberschenkel ein und landete mit dem Bauch im Schnee. Rudernd kam sie wieder auf die Beine, fand etwas unter ihren Füßen, was wohl ein zuvor festgetrampelter Pfad gewesen war, und folgte ihm so gut es ging. Kurz darauf sah sie die vom Schnee halb zugewehten Reste eines Windschutzes.
Der Gedanke, was in den Schatten jenseits des mickrigen Scheins ihrer Stirnlampe heranschleichen mochte, beschleunigte ihre Handgriffe. Der Windschutz reichte aus, um sie im Kauern vor dem schlimmsten Wind zu bewahren, doch als sie das benutzte Toilettenpapier verbrennen wollte – Tribut an den arktischen Boden, der alles wieder an die Oberfläche transportierte und auf dem alles Organische nur langsam verrottete –, fielen ihr sämtliche Streichhölzer aus der Packung, und sie musste sie einzeln wieder einsammeln. Als Nächstes blies der Wind jedes Streichholz aus, bevor das Toilettenpapier Feuer fangen konnte. Fluchend, mit eiskalten Fingern, gab sie es nach dem fünften Versuch auf und stopfte die Streichhölzer zurück in ihre Hosentasche. Dabei entglitt ihr der linke Handschuh. Sogleich packte der Wind zu und wirbelte ihn von ihr fort. Kirsten hechtete hinterher. Sie hatte Glück, es gelang ihr, den Handschuh nach wenigen Metern wieder einzufangen. Zitternd zwängte sie ihre Finger hinein. Direkt gegenüber prangte ein dunkles Loch, ein Durchlass in den schneebedeckten Hügeln der Gletscherzerfallslandschaft. Bewegte sich dort etwas?
Es blieb alles still. Kein Hund schlug an. Aller rationalen Einschätzung nach war sie allein. Kein Grund zur Panik. Sie klopfte sich den Schnee von den Händen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie sah ihre letzten Fußstapfen, aber danach nichts weiter. Mit einem Mal wusste sie nicht mehr, wo genau in diesem undurchsichtigen Meer aus Schnee, mannshohen Buckeln und länglichen Hangrücken der Weg zurück ins Lager führte. Wo
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