Ins Eis: Roman (German Edition)
krank!«, wimmerte sie. »In eurer Nähe stirbt alles!« Sie griff nach dem Treppengeländer und floh die Stiege hinauf. Keine Sekunde später stolperte sie hinaus an Deck. Krachend schlug oben die Tür zu.
»Jemand sollte ihr folgen«, sagte Oda und sah dabei Kirsten an. »Sie sollte in diesem Zustand nicht allein an Deck sein. Und die anderen gehen wieder schlafen. Ich werde den Sysselmann über dieses Geschmiere informieren.«
»Kirsten soll Jonas nicht allein lassen.« Das war Fredrik, seine Stimme klang dumpf. »Ich werde nach Monika sehen.«
»Lass nur, Fredrik, ich mach das«, bot Peter an. »Ich muss mir nur schnell etwas anziehen. Wenn Ingrid uns in der Zwischenzeit einen Tee machen könnte mit … irgendwas.«
»Die Schiffsapotheke ist gut bestückt. Ich werde etwas holen, was Monika beruhigt.«
»Danke dir. Und Hartmut, wenn du nach diesem Zwischenfall mit in meiner Kabine schlafen willst, kein Problem. Das obere Bett ist frei.«
Hartmut sah grimmig aus; sein bulliger Körper hätte machtvoll gewirkt, hätte nicht die im Schritt zu tief sitzende und an den Knöcheln zu kurze Unterhose den Eindruck zunichtegemacht. »Danke, aber nicht nötig. Ich nehme das nicht so ernst. Heute schneidet mir bestimmt keiner im Schlaf die Kehle durch.«
»Hartmut! Wie …«
»Ruhe! Oda, hast du das gehört?«
Odas Kopf ruckte herum, zu Tim, der am Treppengeländer angespannt nach oben lauschte. »Was ist?«
»Da hat jemand ein Schneemobil gestartet.«
Tim war bereits zurück in seine Kabine gesprungen. Sie hörten ihn Sachen an sich reißen, holpernd in seine Überhose schlüpfen. Oda fuhr zu der Gruppe herum. »Alle in eure Kabinen!«, befahl sie. »Das muss Monika sein.«
»Monika? Aber was will sie denn mit einem Schneemobil? Es ist doch Nacht? Und es stürmt!«
»Wir holen sie zurück, keine Angst! Ingrid, du hältst dich bereit und weckst die Crew.«
Niemand folgte Odas Befehl, in die Kajüten zu gehen. Sie zogen sich bloß zurück, in den Teil des Schiffsinneren vor der Küche, wo die zwei Tische standen, um Tim und Oda Raum zu geben. Tim warf Oda ihre Kleider in den Gang, wo sie sich anzog, damit sie beide sich in der engen Kabine nicht gegenseitig behinderten. Jacke, Hose, warme Socken, Stiefel, Gesichtsmaske, Handschuhe, Helm.
»Was hatte sie an?«, rief Oda und beantwortete ihre Frage gleich selbst. »Eine Jacke, Jeans. Turnschuhe.«
Ingrid eilte zu ihrem Zimmer und kam kurz darauf mit ihrem großen Rucksack zurück, in den sie ihre eigenen Stiefel, Überziehhose und eine Mütze stopfte.
»Sie hatte Handschuhe an der Jacke hängen«, sagte Kirsten. »Es waren die warmen Überziehhandschuhe. Aber sie hatte bestimmt keine Gesichtsmaske. Und keinen Helm.«
Tim, in voller Montur und mit Satellitentelefon und GPS in der Hand, stürmte an ihnen vorbei die Treppe hinauf. Das Licht der Stirnlampe an seinem Helm irrlichterte ihm auf den Stufen voraus. Auf dem oberen Absatz brüllte er über die Schulter zurück: »Die Signalpistole, Oda!«
Oda tauchte in ihre gemeinsame Kabine ein. Eine zweite Gesichtsmaske und die dreieckige Tasche mit der Pistole flogen neben Ingrids Rucksack in den Gang. Dann war auch sie fertig und jagte hinter Tim her. Keine Minute später hörten Kirsten und die anderen das Aufheulen der Motorschlitten.
Danach kehrte Stille ein.
In den nächsten vierzig Minuten lernte Kirsten etwas Neues über Kristoffers Familie: dass sie zum gemeinsamen Gebet fähig war in der Hoffnung, Gott möge menschliche Missgunst in Gnade verwandeln.
An ihrem Verlobungstag hatte Kristoffer gesagt, viele glaubten, eine Bank versammle Zyniker, aber das stimme nicht, denn Zynismus spotte gesellschaftlichen Normen. Er jedenfalls kenne keinen erfolgreichen Banker, der seinem eigenen Umfeld mit Zynismus begegne. Die meisten lebten in ihrer beschränkten Welt, und alles, was die Grenze ihrer gesellschaftlichen Schicht überschritt, sei nicht Zynismus, sondern Krieg. Damals hatte er auch gesagt, er könne niemals wie Erland arbeiten, in der Vermögensverwaltung reicher Privatkunden, befasst mit den Kennzifferkolonnen der besten Investments. Dieses »Niemals« hatte ein paar Jahre Bestand, dann half Kirsten ihm, es zu begraben, ihre Welt zu verkleinern und den Schritt zu wagen hinein in das Epizentrum der Warthenbergs und Stolts: die Bank. Und jetzt stand sie hier, im Sturm, ohne ihn.
Kirsten hatte sich angezogen, so warm wie es nur ging, und war an Deck gegangen. Außer ihr stand niemand an der Reling und
Weitere Kostenlose Bücher