Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
Größen, Bündel getrockneter Kräuter, Gläser mit für sie nur zum Teil definierbaren eingelegten Beeren, Früchten oder Wurzeln, außerdem weitere Flaschen von der Art, die sie bereits in der Ade-Bar gesehen hatte: gekennzeichnet mit den Namen einiger Dorfbewohner.
Da Heinrich die Mühle in ihrem Urzustand belassen hatte und sich mit seiner kleinen Praxis nur auf den ohnehin verfügbaren Platz beschränkte, war der Innenraum im hinteren Teil weiter durch seine ursprüngliche Bestimmung geprägt. Pippa blickte auf große hölzerne Zahnräder, einen wuchtigen Mühlstein, Ständerwerk, Seilzüge, Tröge und Trichter – dort wirkte alles, als wäre der Müller nur schnell vor die Tür gegangen und würde bald zurückkehren, um mit seiner Arbeit fortzufahren.
Auf dem Tisch entdeckte Pippa ein Rezept, geschrieben in Heinrichs steiler, altertümlicher Schrift. Sie versuchte erst gar nicht, die an Hieroglyphen erinnernden lateinischen Abkürzungen zu entziffern. Eine schmale Flasche, mit Professor Piep – 3 x täglich einreiben beschriftet, stand neben einem wattierten Kuvert, das an den Vogelkundler adressiert war. Auf einem an eine dicke Kerze gelehnten Zettel hieß es: Lieber Besucher – bitte umgehend zur Post bringen, ganz gleich, wo. Danke.
Und das soll funktionieren?, fragte Pippa sich erstaunt. Irgendjemand kommt hier vorbei und nimmt die Tinktur mit, um sie brav an den Professor zu schicken? Und wenn Heinrich kein Telefon hat – woher weiß er von Meissners Zipperlein? Offensichtlich gibt es im Storchendreieck gut funktionierende Kommunikationswege jenseits von Handy oder E-Mail. Dürfte besonders für den armen Kommissar Seeger und seinen Adlatus ganz schön schwierig sein, diese Kanäle aufzuspüren oder gegen sie zu kämpfen.
Sie kicherte vor sich hin. Ein Spökenkieker mit Visionen war auf moderne Technik wohl nicht angewiesen.
Als sie sich umdrehte, entdeckte sie eine Tür, hinter der sich das ehemalige Müllerstübchen verbarg: eine winzige Kammer mit einem schmalen Bett und einer alten schmucklosen Truhe, die Heinrich als Schrankersatz für Kleider oder persönliche Unterlagen diente.
»Das ist pure Askese«, sagte Pippa halblaut, »aber was braucht man eigentlich mehr als das? Alles andere dient nur der Bequemlichkeit oder unserer Unterhaltung. Ich könnte ohne Musik, ohne Bücher, ohne tägliche Nachrichten auf Dauer nicht auskommen, Heinrich offenbar schon. Warum entscheidet ein Mensch sich dafür, derart spartanisch zu leben?«
»Weil er schon alles gehabt und nichts davon wirklich gebraucht hat«, sagte jemand mit Grabesstimme direkt hinter ihr.
Mit einem Aufschrei fuhr Pippa zusammen. Ihr Gesicht wurde heiß. Sie war nicht nur erschrocken, sondern zutiefst beschämt, dass der alte Heinrich sie dabei erwischt hatte, wie sie in seinem Privatbereich herumschnüffelte.
Sie drehte sich um und erkannte beinahe erleichtert den Lokaljournalisten Brusche, der grinsend im Türrahmen lehnte. Wie immer sah er aus wie das lebendig gewordene Klischee eines Reporters: zerknitterter Trenchcoat, karierte Schiebermütze, Umhängetasche – selbst der Stift hinter dem Ohr fehlte nicht, obwohl er auch sein Diktiergerät stets griffbereit hatte.
Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sie und fuhr ihn an: »Verdammt, Sie haben mich erschreckt! Müssen Sie sich so anschleichen?«
Der Journalist hob die Augenbrauen. »Wenn Sie schon die Tür offen lassen, dann sollten Sie mit Leuten rechnen, die Ihrem Beispiel folgen.« Sein Grinsen wurde breiter. »Aber zumindest mit mir.«
Jetzt fühlte Pippa sich erst recht in der Defensive. »Und Sie sind natürlich hier, weil Sie Heinrichs Heilkenntnisse in Anspruch nehmen wollen«, sagte sie ironisch. »Um welche Krankheit handelt es sich, wenn Sie mir die Frage erlauben? Infektiöse Schreibblockade oder bakterielle Ideenlosigkeit?«
»Wir beide haben uns mit dem gleichen Leiden angesteckt«, gab Brusche ebenso ironisch zurück, »Ermittlungsfieber.«
Die ertappte Pippa drehte sich schnell weg, denn sie spürte wieder, wie ihre Wangen heiß wurden. Dann fragte sie betont desinteressiert: »Was glauben Sie denn, hier herauszufinden? Etwas für Ihre Story über Christabel Gerstenknecht?«
Brusche zuckte mit den Schultern. »Kann man nie wissen. Ich interessiere mich selbstverständlich auch für ihre Wegbegleiter. Christabel und der alte Heinrich sind …«, er hakte seine Zeigefinger ineinander, » so eng. Außerdem sollte ein guter Reporter immer an mindestens
Weitere Kostenlose Bücher