Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
Regenmengen der letzten Tage viel Wasser. An der niedrigen Uferböschung kündigten Büschel von Schneeglöckchen den nahen Frühling an. Steter Wind, der hier auf dem flachen Land durch nichts gebremst wurde, hatte die Bäume mit deutlich erkennbarer Neigung nach Osten wachsen lassen. In Sichtweite gab es nur ein einziges Gebäude, in dem Pippa den Storchenkrug aus Waltraut Heslichs Prospekt erkannte. Sie nahm sich vor, ihm auf jeden Fall einen Besuch abzustatten.
Auf der anderen Seite der Brücke, zwischen den nach Storchhenningen und Salzwedel führenden Straßen, erhob sich eine imposante hölzerne Bockwindmühle, die gleichermaßen düster und romantisch wirkte. Das rechteckige Mühlenhaus ruhte auf der Spitze eines Ständerwerks aus dicken Balken. Die Windflügel reichten beinahe bis zum Boden und überragten die Mühle nach oben beträchtlich. Auf der anderen Seite führte eine offene verwitterte Stiege zu einem ausladenden Anbau.
Da möchte ich nicht Don Quichotte sein, dachte Pippa, als sie die Spannweite der Flügel abschätzte. Auf der Scheitelhöhe schwebt man bestimmt zwanzig Meter über dem Boden. Ob Eva Lüttmann durch diese Flügel zu Tode gekommen ist? Pippa schauderte. Ausgerechnet einen solchen Ort hat der alte Heinrich sich als Wohnung ausgesucht? Der Mann hat wirklich einen ausgefallenen Geschmack.
Vor der Mühle entdeckte sie eine Schautafel, die das Gebäude als Kulturdenkmal des Storchendreiecks auswies. Ein Verein, der sich den Erhalt von Mühlen der Region auf die Fahne geschrieben hatte, kümmerte sich darum. Sie erfuhr weiter, dass Heinrichs Heim 1755 erbaut worden und noch voll funktionstüchtig war. Bei dem ungewöhnlichen Anbau handelte es sich um die »Feise« genannte Müllerstube.
Auf der Suche nach weiteren Informationen ging sie um die freistehende Schautafel herum und fand einen vergilbten, mit der Hand beschriebenen Zettel, der mit Reißzwecken am Holz befestigt war: Sprechzeiten: Wann immer du mich brauchst – Komm herein, und warte auf mich. Die Mühle ist immer offen. Frisches Quellwasser findest du in einem Krug neben dem Fenster – bedien dich.
Im Gegensatz zur nicht verschlossenen Haustür von Waltraut Heslich war dies eine echte Aufforderung einzutreten, und Pippa ließ sich nicht lange bitten. Sie kletterte die steile Treppe hinauf, die nur auf einer Seite einen einfachen Handlauf als Sicherheit bot. In circa fünf Metern Höhe endete die Stiege an einer kleinen Plattform vor der Eingangstür. Dort hing ein improvisierter Holzbriefkasten, unter dem ein offenes Fach angebracht war, wie man es für Zeitschriften oder Großbriefe benötigte. Heinrich nutzte das Fach allerdings, um dort einen selbstgebastelten Block vor der Witterung zu schützen. Neugierig nahm Pippa den Block zur Hand, der sich als eine Art Anamnesebogen entpuppte, an dem ein mit Schnur befestigter Bleistift baumelte.
Füll dies aus, wenn du keine Zeit hast zu warten, las sie , ich komme zu dir nach Hause, sobald ich kann, und bringe die passende Medizin.
Der Bogen fragte alle klassischen Krankheitssymptome ab, aber sie entdeckte auch: Erzähl mir von den Sorgen, die du in letzter Zeit hattest , und Gab es Vorahnungen oder Visionen? Wer ist außer dir betroffen?
Der Spökenkieker, wie er leibt und lebt, dachte Pippa, aber darf er überhaupt medizinischen Rat erteilen? Dafür benötigt man doch eine Ausbildung oder ein Zertifikat. Das braucht man doch in Deutschland immer und für alles. Sie kicherte. Ein Spökenkieker-Diplom …
Sie horchte an der Tür, aber kein Laut war zu hören.
Niemand zu Hause, dachte Pippa, die Mühle fühlt sich verlassen an.
Sie drückte die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich knarrend in einen stickigen Raum, in dem ein alter Kanonenofen Wärme verbreitete. Was sie bereits draußen zu spüren glaubte, bestätigte sich: Heinrich war nicht da.
Toll, dachte Pippa, ist Heinrich ansteckend? Jetzt bilde ich mir schon ein, die Schwingungen von Häusern, Pardon, von Mühlen deuten zu können!
Sie trat ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und öffnete auch das winzige Fenster, um Sauerstoff in die Kammer zu lassen. Dann sah sie sich in dem spartanisch eingerichteten Raum um: zwei Stühle, ein Holztisch, außerdem eine Art Massagetisch, auf dem gläserne Schröpfköpfe auf ihren Einsatz warteten. An einer Wand hatte Heinrich Regalbretter angebracht. Pippa entdeckte unzählige lateinisch beschriftete Flaschen mit flüssigem Inhalt, Mörser in unterschiedlichen
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