Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
packen, dachte Pippa, aber Christabel belehrte sie eines Besseren.
»Natürlich haben Sie wieder ins Schwarze getroffen. Geld spielt immer eine Rolle, ganz gleich, ob es um den Verstand, um Freundschaft oder um Liebe geht. Severin senior hatte kein Geld, ich hatte recht üppig geerbt und wollte es sinnvoll ausgeben. Insofern haben wir uns auch da perfekt ergänzt.«
Christabel las in Pippas skeptischer Miene wie in einem Buch und fuhr fort: »Ich nehme an, jemand hat Sie eingeweiht. Jetzt fragen Sie sich natürlich, warum mein Gatte dann ausgerechnet auf dem Rückweg von seiner Geliebten den Weg … allen Fleisches genommen hat.«
»Nun ja … ich …«, stammelte Pippa verlegen.
Christabel winkte lässig ab. »Und dabei hätte ich gedacht, dass ich ausgerechnet Ihnen mit Ihrer italienischen Vorgeschichte nicht erklären muss, was einem erschöpften Liebhaber auf dem Heimweg zur treusorgenden Ehefrau alles passieren kann. Das, meine Liebe, hat nämlich nichts mit dem Alter zu tun, auf jeden Fall nicht mit dem Ihrigen.«
Verdammt, dachte Pippa, kein Wort mehr über untreue Ehemänner, sonst schneide ich mir noch tiefer ins eigene Fleisch.
»Ich werde Florian und Julius Bescheid geben, dass Sie und ich heute Abend zu Hause bleiben«, sagte Pippa. »Ich sehe doch, dass Sie sich heute verausgabt haben. Sie müssen sich ausruhen. Das Konzert ist zu anstrengend.«
Lediglich durch ein fast unmerkliches Heben der Augenbrauen zeigte Christabel, dass sie die Absicht hinter dem abrupten Themenwechsel bemerkt hatte. »Ich habe den Eindruck, Melitta Wiek hat Sie ein wenig zu gut eingearbeitet«, erwiderte sie. »An jedem anderen Abend würde ich vielleicht sogar nachgeben – aber nicht heute. Florian spielt zum ersten Mal ein Solo, und das will ich hören. In angemessener festlicher Umgebung.«
»Wollen Sie sich vergewissern, dass er gut genug ist, um bei Ihrem Hundertsten aufzutreten? Oder wollen Sie als moralische Unterstützung im Publikum sitzen, weil seine Mutter nicht dabei sein kann?«
Die alte Dame kicherte. »Ach was, ich habe nur deshalb so viel Geld in ihn investiert, damit er auf meiner Beerdigung allen Anwesenden noch mal so richtig den Marsch blasen kann.«
Pippa lachte, blieb aber streng. »Florian wird verstehen, wenn Sie zu müde sind, um auf das Konzert zu gehen.«
Christabel drohte scherzhaft mit dem Finger. »Sie haben Angst, dass ich Ihnen wegen Altersschwäche unter den Händen wegsterbe, Pippa! Wie charmant! Aber lassen Sie sich gesagt sein: Sterben mitten in einem Konzert passt wesentlich besser zu mir, als in meinem Bett einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Obendrein ist heute in Salzwedel schneller ein Arzt zu finden, der es wagt, mich zu retten, als in Storchwinkel. Maik Wegner ist über das Osterwochenende zu seinen Eltern nach Süddeutschland gefahren.«
Pippa stieg auf ihren scherzhaften Ton ein. »Verstehen Sie mich bitte: Ich will nicht das ganze Dorf am Hals haben, wenn die Jahrhundertfeier ausfällt, nur weil ich nicht auf Sie aufgepasst habe! Lassen Sie mich also wenigstens versuchen , Sie halbwegs gesund bis zu Ihrem hundertsten Geburtstag zu begleiten.«
»Ich bin von bösen Krankheiten in meinem Leben verschont geblieben. Gott sei Dank«, sagte Christabel leise und wurde plötzlich ernst. »Bis auf die Verbrennungen, die ich vor mir und der Welt verberge.«
Sie zog ihre Handschuhe aus, und Pippa starrte auf schwer vernarbte bräunliche Handflächen.
Deshalb trägt sie Handschuhe!, dachte Pippa entsetzt.
»Danach war es für mich vorbei mit Schlittenhunderennen«, sagte Christabel.
»Reibungshitze durch Hundeleinen?«
Die alte Dame nickte. »Falsch gehandhabt. Und trotz eisiger Kälte ohne Handschuhe. Ich hätte es besser wissen müssen. Jeder ist mal leichtsinnig. Ich habe dafür bezahlt.« Sie gluckste. »Mit vielen teuren Handschuhen.«
»Haben Sie denn gar keine Angst vor Krankheit … oder dem Tod?«
»Früher einmal.« Christabel zuckte mit den Schultern. »Aber dann habe ich begriffen, dass Angsthasen tausend Tode sterben und Mutige nur einen. Ich habe mich dem Club derer angeschlossen, die ihre hundert Jahre Lebenszeit in vollen Zügen genießen. Alles Menschen, die sich nicht in Watte gepackt, sondern jede Sekunde voll ausgekostet haben. Bis zum Schluss.«
»Leider sind Sie das einzige Mitglied dieses Clubs, das ich kenne.«
»Vielleicht das einzige, das Sie persönlich kennen, aber sonst … Der Architekt Oscar Niemeyer, der die Hauptstadt Brasiliens
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