Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
herumtollte.
Das könnte Severin sein, überlegte Pippa. Stammt seine Leidenschaft für Schlittenhunde etwa schon aus dieser Zeit?
Die Bilder der Mühle und des Jungen veranlassten Pippa, nach einem Kapitel von Eva Lüttmann zu suchen. Sie schlug viele Seiten zurück, bis sie den gesuchten Eintrag fand. Pippa rechnete rasch nach: Severins Mutter musste ihn kurz vor ihrem tragischen Unfalltod verfasst haben. In knappen, pragmatischen Worten beschrieb Eva Lüttmann darin ihren Arbeitsalltag zwischen ihrer Praxis in Storchwinkel und dem Krankenhaus in Storchhenningen.
»Eva Lüttmann war Ärztin?«, rief Pippa unwillkürlich aus.
Christabel öffnete die Augen und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann richtete sie sich auf. »Was haben Sie gesagt?«
»Das tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Pippa verlegen.
Mit beiden Händen richtete Christabel ihre derangierte Frisur. »Ich bin trotz Mittagsschlaf wieder eingeschlafen. Wie ärgerlich. Ich werde alt.« Sie deutete auf das Buch, das aufgeschlagen auf Pippas Schoß lag. »Haben Sie sich das bei Timo geholt? Das wäre nicht nötig gewesen. In meinem begehbaren Safe steht ein Bücherregal mit sämtlichen Ausgaben der Chronik. Sie können sie jederzeit haben.«
»Gerne, vielen Dank! Eine wunderbare Idee, so ein Tagebuch eines Ortes.«
»Severins Vater wollte nach der Wende in Storchwinkel etwas ganz Besonderes fördern und rief alle auf, ihre Ideen einzubringen. Hilda machte den Vorschlag mit der Fünf-Jahres-Chronik. Die Bücher sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil unseres dörflichen Lebens geworden. Und dank Hildas Überredungskünsten machen wirklich alle mit.« Christabel lächelte. »Ich will allerdings nicht ausschließen, dass ihr Baumkuchen gelegentlich dabei geholfen hat, Widerspenstige zu überzeugen.«
Pippa schlug Christabels Beitrag auf. »Mir gefallen die Fotos in Ihrem Kapitel sehr. Ist das Severin junior?«
Auf einen Wink von Christabel reichte Pippa ihr das Buch, und die alte Dame betrachtete die Bilder liebevoll.
»Schade, dass ich nicht mehr gut sehe. Fotografieren hat mir wirklich Freude bereitet«, sagte sie leise und seufzte. »Das Lästige am Älterwerden ist nicht, dass man gebrechlich wird. Oder gar krank – das trifft auch jüngere Menschen. Schlimm ist, dass so viele liebgewordene Hobbys und Gewohnheiten ihre Mühelosigkeit verlieren. Sie entspannen nicht mehr, sondern werden zu einer Anstrengung, der man nicht mehr standhält.«
Hat sie meine Frage nicht gehört?, dachte Pippa und wiederholte sie deshalb. »Ist das Severin junior? Auf den Bildern?«
»Als ich mit meinen Hunden ins Dorf zog, waren sie eine Attraktion. Besonders bei den Kindern. Ich war nie allein bei meinen Spaziergängen, ich hatte immer einen Schwarm Kinder dabei. Severin war von Anfang an Feuer und Flamme für meine Vierbeiner. Er war damals in der Pubertät.« Sie blickte nachdenklich in den Garten hinaus, dann fuhr sie fort: »Und er war stets froh, aus dem Haus zu kommen. Ich denke, damals entstand bei ihm der Wunsch, selbst Schlittenhunde zu besitzen.«
»Tiere können ein wunderbarer Trost sein.«
Christabel sah erstaunt auf und nickte dann. »Nach dem Tod von Eva Lüttmann wurden meine Hunde für ihn noch wichtiger. Wenn ich es recht bedenke, haben sie zunächst mich und den Jungen und dann seinen Vater und mich zusammengeführt. Ihnen verdanke ich also mein derzeitiges Leben.«
Warum heiratet ein Mann in den besten Jahren eine deutlich ältere Frau?, fragte Pippa sich nicht zum ersten Mal. Christabel musste damals fast achtzig gewesen sein.
»Wenn Sie mir die Frage erlauben, Christabel: Warum hat er die Manufaktur Ihnen hinterlassen und nicht seinem Sohn?«
»Ihre Fragen werden häufiger und kühner«, stellte Christabel amüsiert fest.
Pippa bekam einen roten Kopf und verfluchte innerlich ihre unstillbare Neugier.
»Sie haben ganz recht, wenn Sie keine Liebesheirat vermuten«, fuhr Christabel ungerührt fort. »Aber Verstand und Freundschaft können auch eine solide Grundlage für Zusammenleben bilden.«
»Und ich dachte schon, es ging um Geld«, murmelte Pippa.
Wieder einmal musste sie feststellen, dass Christabels Gehör noch immer tadellos funktionierte, denn diese lachte laut und herzlich über Pippas Bemerkung.
»Sie haben sich verschätzt, meine Liebe: Bei mir sind es lediglich die Augen und die Knochen, die immer schwächer werden.«
Dann darf ich für meine Frechheit wohl jetzt meine Koffer
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