Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
geschaffen hat, starb zehn Tage vor seinem hundertfünften Geburtstag. Die französische Reiseschriftstellerin und Entdeckerin Alexandra David-Néel wurde beinahe hunderteins. Auch Irving Berlin, dessen wundervolles White Christmas uns bis heute erfreut, schaffte die Hunderteins. Elly Beinhorn, die berühmte Flugpionierin, hörte erst mit knapp achtzig Jahren mit dem Fliegen auf und wurde hundert. Heidi Oetinger, in deren Jugendbuchverlag die Bücher von Astrid Lindgren erschienen, ebenfalls. Und wir wollen Ihre halb-englische Herkunft nicht vergessen, meine Liebe. Wie alt wurde Ihre hochverehrte Queen Mum? Hundertzwei Jahre!« Sie zwinkerte Pippa zu. »Soll ich weitermachen?«
Pippa hob beschwörend die Hände. »Genug! Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen!«
»Glauben Sie mir, Pippa: Meine einzige Angst ist, dass es im Himmel langweilig ist. Deshalb tue ich jetzt noch alles, um nicht hineinzukommen. In diesem Fall, indem ich Sie ärgere und darauf bestehe, in dieses Konzert zu gehen.«
»Was schlagfertige Argumente betrifft, haben Sie einfach sechzig Jahre länger Übung. Ich gebe auf«, sagte Pippa.
»Ich habe mir den besten Wahlspruch zu eigen gemacht, den D. H. Lawrence zu bieten hat: Tod ist der unverfälschte, wunderschöne Ausklang einer großen Leidenschaft .«
»Schön gesagt. Leider ist er trotzdem keine hundert geworden.«
»Leider nein, aber ich.« Christabel lächelte spitzbübisch. »Und zwar vor einem Jahr.«
Pippa verschlug es fast die Sprache. »Sie sind schon hundert? Aber warum haben Sie denn über Ihr Alter gelogen?«
»Die anderen haben halt nicht richtig aufgepasst. Bei der Achtundsiebzig bin ich einfach zwei Runden gefahren.«
»Aber warum denn bloß?«
Christabel seufzte und suchte nach Worten. Dann sagte sie: »Meine Mutter starb mit achtundneunzig und geistig fit. Sie war eine wunderbare Frau. Ich habe sie sehr geliebt. Die Vorstellung, dass es plötzlich niemanden mehr gibt, der auch nur eine kleine Erinnerung aus meiner Kindheit mit mir teilt, war traurig. Ich brauchte einfach ein ganzes Jahr, um mich damit abzufinden.«
Die alte Dame wirkte auf einmal sehr zerbrechlich, und Pippa hatte einen Kloß im Hals. Während sie noch nach tröstenden Worten suchte, stellte sie jedoch fest, dass Christabel sich längst wieder gefangen hatte.
Mit breitem Grinsen sagte sie: »Außerdem: Jede Frau macht sich gern ein wenig jünger! Auch ich.«
Kapitel 20
D er Applaus verebbte, und die Besucher strömten aus der alten Mönchskirche Salzwedels, die schon vor Jahren zu einer Konzerthalle umgewidmet worden war. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster und ließ es festlich glitzern.
Pippa stand am Seitenportal und streckte prüfend die Hand aus.
»Es regnet nicht mehr«, sagte sie und schob den Rollstuhl mit Christabel neben die Schautafel, an der sie auf Julius warten wollten, während er das Auto holte.
»Rührend, dass Sie so besorgt um mich sind. Ich mag alt sein, bin aber nicht aus Zucker.« Christabel sah Pippa prüfend an. »Wie hat es Ihnen gefallen?«
Jetzt nichts Falsches sagen, dachte Pippa, die noch damit kämpfte, das letzte Musikstück zu verarbeiten, eine moderne Komposition mit schrillen Trompetenklängen und Schlagzeug im Stakkato-Tempo.
»Ein wunderbares Konzert. Das letzte Stück war allerdings durchaus … gewöhnungsbedürftig. Eine überraschende Auswahl des Ensembles.«
Christabel nickte zufrieden. »Meine Auswahl, um genau zu sein. Darius Milhaud. Moderne E-Musik ist mein Heavy Metal.«
»Sie haben die Noten gesponsert?«
»Selbstverständlich. Florian wollte mit seiner Trompete und seinen Jungs gehört werden. Dafür ist dieses kleine Stück perfekt.« Die alte Dame kicherte vergnügt. »Dadurch gehen alle hellwach nach Hause. Nicht einmal Thaddäus Biberberg war sein übliches Nickerchen vergönnt.«
»Gehört Milhaud auch zu Ihrem Club der Hundertjährigen?«
»Er nicht, aber seine Frau Madeleine, die Librettistin. Sie wurde einhundertsechs Jahre alt. Sie sehen: Stetige Aktivität, welcher Art auch immer, hält jung.«
Pippa winkte lachend ab. »Bei diesem Thema geb ich mich – jedenfalls für heute – geschlagen.«
»Kreativer Input, wie es heute so schön heißt, ist immer gut, um die Gehirnzellen anzuregen. Und wenn Milhaud die Konzertbesucher polarisiert und zu Diskussionen anregt, habe ich mein Ziel erreicht.«
Pippa sah sich unter den Menschen um, die noch immer aus der Kirche kamen. »Von Ihrem
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