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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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gewaltiges Stück zu nahe.Am liebsten hätte er sie hier sitzen gelassen und wäre davongerannt. Aber er war schließlich keine siebzehn mehr. Er wusste, dass man sich nicht einfach so verdrücken konnte.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    long time no see
    long time no play
    was war los?
    nichts. hatte viel zu tun
    für die schule?
    damit bin ich fertig
    gratuliere ☺
    danke. bist du lehrer?
    ich?????
    sorry. was dann?
    alles mögliche. nun würfel endlich
    Es war Sonntagnachmittag, mein Vater schlief immer noch, draußen schneite es dicke, weiße Flocken und ich trank Milchkaffee statt Bier. Wir spielten eine Partie nach der anderen. Ein paar Tage war Funkstille gewesen zwischen Spider und Bienenkönig. Aber jetzt lief es wieder und ich war so erleichtert darüber, als wäre ein alter Freund wieder aufgetaucht. Es war nun mal so: Ich spielte gerne mit ihm. Manchmal, wenn wir, so wie jetzt, ohne zu chatten eine ganze Partie lang nur die Würfel rollen ließen, vergaß ich, dass ich am Computer saß. Es war fast wie früher im Winter, bei meiner Großmutter, als wir im Wohnzimmer an dem runden Holztisch gesessen hatten, jeder mit einem ledernen Becher, und als Unterlage hattenwir Bierdeckel, damit die Würfel nicht so knallten. Plötzlich packte mich die Sehnsucht nach ihr, die Sehnsucht nach selbst gebackenen Grönlandkeksen und nach heißer Milch mit Honig und nach Walnüssen, die wir mit dem grimmig aussehenden Nussknacker knackten. Sie packte mich so sehr, dass sich mir die Kehle zusammenzog, so wie in den ersten Monaten in Nuuk, wenn das Telefon klingelte und ich hinlief und es doch wieder nur einer von den Kumpels meines Vaters war. Gegen jede Vernunft hatte ich gehofft, dass es meine Großmutter war, die da anrief, aus Deutschland. Dass sie lachte und sagte, Pakku, komm zurück, mir geht’s wieder besser, morgen werde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Glaub ihnen nicht, wenn sie sagen, dass es mich nicht mehr gibt.
    Ich hatte sie nie tot gesehen. Als ich morgens zur Schule gegangen war, hatte sie mir wie immer vom Küchenfenster aus nachgewinkt. Und als ich mittags aus der Schule kam, hatte man sie schon abgeholt. Sie war auf der Terrasse zusammengebrochen, einfach so beim Schuheputzen, eine Nachbarin hatte den Krankenwagen gerufen. Keiner war auf die Idee gekommen, einem neunjährigen Jungen eine tote alte Frau zu zeigen, und auch das Begräbnis hatten sie mir ersparen wollen. Stattdessen war mein Großonkel Georg mit mir nach Hamburg gefahren und in den Zoo gegangen. Ich konnte mich kaum noch an sein Gesicht erinnern, aber dass er auf die Uhr schaute und sagte »Jetzt sind sie ja wohl fertig«, weiß ich noch genau. Er hatte geglaubt, dass ich nicht verstand, wovon er sprach, weil niemand mit mir über die Beerdigung geredet hatte.
    Auch unser Haus in Dannenberg, den Garten mit der Schaukel und den Bienenkästen, mein Kinderzimmer unterm Dach, die Schule und Frau Mirow, alles das sollte ich nicht mehr wiedersehen. Meine Großtante hatte meine Sachen am selben Tag abgeholt, direkt nach der Beerdigung. So lange, bis geregelt war, zu wem ich kommen würde, blieb ich bei ihnen in Hamburg.
    wo wohnst du eigentlich? oder verrätst du das auch nicht?
    doch. in hamburg
    ehrlich?
    ja. lebst du auch in hamburg?
    nein, aber ich war mal da
    Ausgerechnet Hamburg! Diese Stadt, in der ich mich so mies gefühlt hatte. Endlose Tage, die ich in der vornehmen, immer viel zu heißen Altbauwohnung verbracht hatte, zusammen mit Onkel Georg und Tante Anneliese, die so mitleidig mit mir redeten und die absolut nichts mit mir anfangen konnten. Ich ging nicht zur Schule, es hätte sich nicht gelohnt, weil es klar war, dass ich bei ihnen nicht bleiben würde. Und so saß ich ganze Vormittage auf der Fensterbank zwischen der Tüllgardine und der Fensterscheibe und schaute auf die Straße hinunter, in der die Menschen einkaufen gingen. Ich stellte mir vor, in einem gläsernen Wachturm zu sitzen, und suchte mir immer wieder jemanden aus, den ich so lange zu beobachten hatte, bis er aus meinem Blickfeld verschwand. Es war eine anstrengende Aufgabe. Wenn ich auch nur einmal blinzelte, bestand die Gefahr, dassder Mensch spurlos vom Gehwegpflaster verschluckt wurde.
    Als es feststand, dass ich nach Grönland zu meinem Vater ziehen würde, wurde ich vor Aufregung krank. Tante Anneliese wickelte mir nasse, kalte Handtücher um die Waden und steckte mir ein Fieberthermometer in den Hintern und ich wäre fast gestorben, weil es so schrecklich

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