Ins Nordlicht blicken
diskutierten. Doch sie sprachen zu schnell, als dass er hätte verstehen können, um was es ging.
Er näherte sich der halb geöffneten Tür, um anzuklopfen. Doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Hinter dem voll bepackten Schreibtisch, einen Fuß locker gegen die Tischplatte gestützt, saß ein Mann in einem Drehstuhl, in Oberhemd, Jeans und Sandalen, ein Mann, den er kannte. Es war Angaju, Aqqaluks großer Bruder. Anga, der Trommler.
Im selben Moment trafen sich ihre Blicke und Jonathan wusste, dass Anga auch ihn erkannt hatte. Doch er wandte sich wieder der Frau ihm gegenüber zu, deren Stimme zu hören war, die Jonathan jedoch nicht sehen konnte. Er sprach genauso engagiert und dennoch gelassen weiter wie vorher. Nur seine Zehen in Sandalen und weißen Tennissocken wippten als Zeichen seiner Nervosität auf und ab. Jetzt nickte er Jonathan zu.
»Ich komme gleich«, sagte er. »Setz dich drüben in die Küche und nimm dir einen Kaffee, wenn du magst.«
Jonathan war von dieser Begegnung so unerwartet getroffen worden, dass er nahezu willenlos war. Er drehte sich um, öffnete die gegenüberliegende Tür, betrat dieKüche, griff sich einen der Becher neben der Kaffeemaschine und schenkte sich ein. Während er ihn in kleinen Schlucken trank, löste sich seine Starre langsam auf und er wurde von einem Wirbelsturm an Gefühlen und Gedanken gepackt. Was sollte er tun? Einfach abhauen? Was würde Anga machen? Was dachte er? Warum hatte Anga so getan, als wäre es ganz natürlich, dass er plötzlich in der Tür stand? Was genau wusste er eigentlich? Wie jung er ausgesehen hatte, kaum anders als früher, der kluge, verrückte Angaju. Mann, es war großartig, ihn wiederzusehen!
Dann stand Anga in der Küche, drückte die Tür hinter sich zu, ging auf Jonathan zu und schloss ihn in die Arme, eine so selbstverständliche Geste, dass Jonathan die Tränen in die Augen traten. Einen Moment standen sie so da, bis Anga ihn losließ.
»Du bist zurückgekommen«, sagte er und lächelte. Er nahm sich auch einen Becher, setzte sich auf einen der Holzstühle an den Tisch und schnitt zwei Stücke von dem Napfkuchen ab, der dort zwischen Prospekten und Zeitungen stand. »Kaffemik.«
Kaffemik. Auch dieses Wort war wieder da und brachte so viel mit, von dem Jonathan nicht gewusst hatte, dass es noch in ihm steckte. Wenn man es hörte, roch man den Kaffee und den selbst gebackenen Blaubeerkuchen. Manchmal, wenn die Eltern zu den Verwandten im Norden gefahren waren, hatte Anga für die jüngeren Geschwister und ein paar Freunde ein Kaffemik auf dem Teppich im Wohnzimmer veranstaltet. Angaju, älterer Bruder ... es schien, als hätte Anga allein schon durch seinenNamen die Fürsorge für seine Geschwister auf sich genommen.
Jonathan und Anga saßen sich gegenüber, die Ellenbogen aufgestützt, sie tunkten ihren Kuchen in den Kaffee und aßen und tranken ohne Eile, zwei alte Freunde, die sich kurz aus den Augen verloren hatten. Für Sekunden vergaß Jonathan, dass diese kurze Zeit neun Jahre gedauert hatte. Er war froh, dass Anga so viel redete, mehr, als es früher seine Art gewesen war, und er ahnte, dass Anga das tat, um ihnen beiden die Situation leichter zu machen. Er erzählte vor allem von seiner Arbeit bei der Traditionsbewegung. Sie waren rund zwölf Aktive in Nuuk, aber es gab viele Leute, die sich durch Spenden beteiligten, sodass Anga sogar für zehn Stunden in der Woche bezahlt werden konnte. »Wir haben schon einiges gegen die großen Konzerne erreicht«, erzählte er stolz. »Für die sind wir doch nur ein skurriles Völkchen, dem das Eis wegschmilzt. Die interessieren sich nur für die Rohstoffe, die es hier zu holen gibt. Aber wir haben es geschafft, dass einige der alten Dörfer nicht zerstört wurden. Es kommen immer mehr Touristen nach Grönland. Aber bestimmt nicht, um Bohrtürme und Abraumhalden zu sehen.« Anga trommelte mit den flachen Händen einen kurzen Rhythmus auf die Tischplatte. »Die Siedlung am Rasmussenvej, die ist nicht mehr da«, sagte er unvermittelt.
»Ich weiß. Deswegen bin ich hier. Ich wollte fragen, ob ihr wisst, wo die Leute hingezogen sind.«
»In die Neubauten weiter oben am Fjord. Aber dein Vater hat dort schon lange nicht mehr gewohnt. Soweit ich weiß, ist er in den Süden gezogen.«
»Nach Nanortalik?«
»Kann sein.«
»Da hat es ihm immer am besten gefallen. Bergsteigen und Bienen, weißt du ...«
Sie schwiegen beide. Jonathan spürte, dass Anga ihm die Zeit geben wollte zu
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