Ins Nordlicht blicken
reden, zu erzählen, was damals passiert war, und dass er ihm ebenso die Möglichkeit offenließ, seine Geschichte für sich zu behalten.
»Anga«, sagte er. »Ich will zuerst mit meinem Vater sprechen.«
Anga nickte. Dann stand er auf und holte aus einem Wandschränkchen eine Flasche ohne Etikett und zwei Gläser heraus. Er schenkte sich und Jonathan zwei Fingerbreit ein. »Wodka«, sagte er, »hat mein Alter selbst gebrannt. Er sagt dazu Wässerchen.« Er hob sein Glas. »Auf die Familie.«
Jonathan kippte den Schnaps hinunter und schüttelte sich. »Wässerchen ...« Er nahm die Flasche mit der farblosen Flüssigkeit in die Hand. »Was glaubst du, Angaju?«, sagte er und sah sein Gegenüber fast lauernd an. »Haben Namen eine Bedeutung?«
Anga überlegte einen Moment. »Lange Zeit haben wir unseren Kindern dänische Namen gegeben, dann amerikanische, in letzter Zeit gibt’s sogar indische. Über uns, über die Inuit, sagt das eine Menge aus.«
»Ich meine, für den, der ihn trägt.«
Anga lachte. »Meine Tochter heißt Avaaruna. Weißt du, was das bedeutet?«
»Keine Ahnung.«
» Kleines Mädchen, das sich den Hinterkopf angeschlagenhat . Sie war sehr zappelig, als sie auf die Welt kam, und hat sich gleich den Kopf gestoßen. Wir haben ihr diesen Namen gegeben, damit wir besser auf sie achtgeben.«
»Bist du verheiratet?«
»Ja.« Anga nickte. Aus dem Nebenzimmer hörte man die Tastatur eines Computers klackern und von draußen das Geschrei der Jungen.
»Wie geht es Aqqaluk?« Jonathan versuchte in Angas Miene die Antwort vorauszuahnen, um sich zu wappnen für das, was er ihm gleich erzählen würde. So viel Zeit war vergangen, in der so viel hatte passieren können.
»Es geht ihm ganz gut.« Anga verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das ebenso viel und so wenig verriet wie das Wörtchen ganz . »Er ist Restaurantkontrolleur oder so ähnlich. Das heißt, er sieht zu, dass die anderen ihre Arbeit machen.«
»Restaurantkontrolleur?«
»Er arbeitet für Sven Kristiansen. Der hat eine ganze Reihe von Fischrestaurants an der Küste. Vielleicht hast du eins am Hafen gesehen, es hat einen großen goldenen Fisch über der Tür.«
Jonathan lachte. »Sven! Er scheint sich verbessert zu haben. Und Aqqaluk offenbar auch.«
Anga zuckte die Schultern. »Ich sehe ihn kaum noch. Er ist viel unterwegs. Ich glaube nicht, dass er jetzt in Nuuk ist.«
Jonathan wartete, ob Anga weiterreden würde. Doch der schien nicht weiter über seinen Bruder sprechen zu wollen. Jonathan tippte mit den Fingern gegen die Wodkaflasche. »Seit wann trinkst du so etwas, Anga?«
»Das kommt selten vor.« Auf Angas Gesicht zeigte sich etwas, das Jonathan als Verlegenheit deutete. Er stand auf, stellte die Flasche wieder in den Schrank und drehte sich dann zu Jonathan um. Mit einem Lächeln legte er ihm die Hände auf die Schultern. »Aber es ist ein besonderer Moment, wenn die Toten plötzlich vor einem stehen, Pakku.«
Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
Seit dem Vorfall mit der Alaska behandelte mich Sven anders als die anderen. Er schien in mir so etwas wie einen Komplizen zu sehen. Obwohl ich genauso oft zu spät kam wie vorher, meckerte er mich kein einziges Mal an, sondern grinste auf eine verschwörerische Art, die mir auf die Nerven ging. Was sollte das? Ich wollte nicht mit ihm in einem Boot sitzen, jedenfalls nicht als erster Offizier oder was immer er jetzt in mir sah.
Die Alaska hatte Nuuk verlassen und war Richtung Norden abgedampft, zu den Eisbergen der Diskobucht, und Sven backte wieder kleinere Brötchen, das heißt, er belieferte nur seine Stammkunden. Doch nach circa einer Woche fing er mich auf dem Weg zur Arbeit ab, noch bevor der von morgendlichen Nebelschwaden gnädig verhüllte Schuppen in Sicht war.
»Hey, Pakku«, sagte er. »Ausgeschlafen?«
»Nee.« Ich ging im gleichen Tempo weiter, um klarzumachen, dass es nicht an mir lag, wenn ich zu spät kam.
»Warte doch mal«, meinte er und boxte mir leicht gegen die Schulter, was er wohl für eine kumpelhafte Geste hielt. »Hast du schon gehört: In zwei Tagen kommt die Alaska zurück.«
»Schön.«
»Es ist der Abschluss ihrer Grönlandtour.«
»Und?«
»Nun renn doch nicht so. Ich komm ja kaum mit.«
»Worum geht’s denn?« Jetzt blieb ich stehen. Ich war zu gespannt, auf was die Sache hinauslief, um Sven noch länger zappeln zu lassen.
»Die Abschlussfeier eben, verstehst du? Sie machen ein großes Bankett. Mit allem Drum und Dran. Und wir liefern das
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