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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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war. Das Hamburg, das ich kannte, bestand aus einigen unzusammenhängenden Erinnerungen – der Zoo, die Fensterbank mit der weißen Gardine, der große Flughafen, wo mich eine Stewardess an die Hand genommen hatte. Es war die Stadt eines verwirrten, unglücklichen kleinen Jungen.
    und wo wohnst du?
    in dannenberg
    im wendland?
    genau
    da war ich mal auf einer fußballfreizeit, vor ewigkeiten
    spielst du noch?
    das ist lange vorbei. und du?
    nee
    was machst du denn außer bg?
    warum willst du das wissen?
    du interessierst mich
    du kennst mich doch gar nicht
    deswegen will ich ja was wissen
    vielleicht wärst du enttäuscht
    vielleicht, vielleicht auch nicht
    über dich hast du noch fast nichts verraten
    vielleicht wärst du enttäuscht
    weil du hsv-fan bist?
    vielleicht
    Verdammt viele Vielleichts. Wir schlichen umeinander herum wie die Boxer vor dem ersten Schlag. Ich lehnte mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück. Ob es stimmte, dass Spider in Hamburg wohnte? Warum nicht? Warum sollte er das erfinden? Warum hatte ich erfunden, dass ich in Dannenberg lebte? Ich wollte ja gar nicht dorthin zurück, das war genauso ein verschlafenes Nest wie Nuuk, nur nicht ganz so kalt. Ich wollte nach New York oder nach London oder auch nach Berlin, auf jeden Fall in eine richtige Stadt mit Millionen von Menschen. New York lag von Nuuk aus am nächsten, ganz genau 2978 Kilometer entfernt, nach London waren es 28 Kilometer mehr und Berlin lag noch mal rund 800 Kilometer weiter weg. Also New York – vielleicht auch deshalb, weil mein Vater die Amis nicht ausstehen konnte. Scheißamis pflegte er sie zu nennen, Scheißamis, die glauben, dass ihnen die Welt gehört.
    was willst du denn wissen?
    ob du schon mal in new york warst
    war ich nicht, würde ich aber gerne
    ich auch
    okay. treffpunkt nächsten samstag, empire state building?
    okay, 13 Uhr
    abgemacht. ich muss jetzt schluss machen
    gn ☺
    gn ☺
    Ich schaute auf die Zeitanzeige. In Hamburg war es jetzt kurz vor acht Uhr abends, vielleicht wollte Spider Tagesschau gucken und danach den Tatort. Ich hatte nicht vergessen, dass das für meine Großmutter der wichtigste Abend in der Woche gewesen war. Wenn ich in meinem Bett lag, konnte ich die unheimliche Musik hören, mit der der Krimi anfing. Es war gruselig und trotzdem gemütlich, denn ich war sicher, dass mir nichts passieren konnte. Saß Spider jetzt irgendwo in Hamburg in einer überheizten Wohnung mit Tüllgardinen vor dem Fenster, guckte Tatort, trank ein, zwei Gläser Wein und plumpste dann neben seiner Gattin ins Doppelbett? Nein, das passte nicht. Spider lebte allein, irgendwo in der Großstadt, er war ein alter, einsamer Wolf, der sein Rudel verloren hatte, das spürte ich.

Nuuk, Grönland, Sommer 2020
    Am Abend hatte Jonathan während irgendeiner grönländischen Gameshow gedankenlos eine XL-Tüte Chips geleert, bevor er vor dem Fernseher eingeschlafen war. Jetzt hatte er trotz Zähneputzen immer noch den salzig-pappigen Geschmack im Mund und nicht den geringsten Appetit. Trotzdem zwang er sich, das Frühstück nicht wieder ausfallen zu lassen. Inmitten einer Gruppe von Backpackern saß er in der Cafeteria des Hotels und stippte ein Schokoladenbrötchen in den Milchkaffee. Er hatte den Stadtplan vor sich ausgebreitet und suchte den Weg zur Erlöserkirche.
    Eine Viertelstunde später ging er über den Kirchplatz, auf dem ein paar Jungs einen Ball hin und her kickten. Es war wieder ein klarer, kühler Tag mit Temperaturen um die zwölf Grad, so ganz anders als in Hamburg, wo die Sommer von Jahr zu Jahr heißer und trockener wurden. Jonathan blieb einen Moment stehen und sog die nach Meer und Sonne riechende Luft in sich auf, bis er auf das grün gestrichene Häuschen gegenüber der Kirche zuging. Ein Schild wies darauf hin, dass sich hier das Hauptbüro der Grönländischen Traditionsbewegung befand, Öffnungszeiten variabel.
    Die Tür war nicht verschlossen. Er trat ein und befand sich in einem Flur, an dessen Wänden große Fotos hingen, ein Igludorf, ein vielspanniger Hundeschlitten, einWalfangboot auf dem Meer. In einer Ecke stand ein Regal mit bunt bemalten Masken und einigen kleinen Statuen aus grünlichem Serpentin. Tupilaqs, Furcht einflößende Wesen, die magische Kräfte besaßen, wenn man an sie glaubte. Jonathan strich mit den Fingern über die glatt polierte Oberfläche der Figuren und lauschte den Stimmen, die aus einem der beiden Räume kamen, eine Frau und ein Mann, die offenbar angeregt miteinander

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