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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Containerschiffen wie ein Schmuddelkind wirkte. An Bord stand ein untersetzter Inuit in Latzhose und löcherigem Pullover, der eine Zigarette rauchte. Als Jonathan zu ihm hochgrüßte, schnippte der Mann ihm den Stummel vor die Füße.
    »Das wird aber auch Zeit«, rief er auf Grönländisch. »Ich komme runter. Kannst schon mal den Transporter vorfahren.« Und schon lief er über die hölzerne Gangway. Noch im Gehen warf er Jonathan etwas zu, das dieser erst als Autoschlüssel erkannte, als er es in den Händen hielt.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Mann begriff, dass Jonathan nicht die Hilfskraft war, auf die er gewartet hatte. »Shit«, fluchte er, »hat mich dieser Kerl schon wieder hängen lassen.« Er musterte Jonathan und zuckte dann die Schultern. »Was ist, kannst du mit anpacken?«
    Nach wenigen Sätzen waren sie sich einig: Jonathan würde beim Beladen des Frachters helfen und dafür umsonst die Fahrt nach Nanortalik mitmachen. Jonathan war es ganz lieb, sich nicht auf Anga berufen zu müssen. So brauchte er keine Fragen zu beantworten, die womöglich in die Vergangenheit geführt hätten.
    Kurz darauf hatte Fridjof, der sich als Schiffseigner, Kapitän und Spediteur in einer Person herausstellte, den Transporter vor die Gangway gefahren und gemeinsam hievten sie die schweren Holzkisten aus dem Wagen und schleppten sie an die Kaimauer. Sechs, sieben Kisten waren es, vollbepackt mit Motoren und Antriebswellen. Die Anstrengung trieb Jonathan den Schweiß auf die Stirn. Schwer atmend ließ er sich auf der letzten Kistenieder und lauschte dem Hämmern seines Herzens gegen die Rippen.
    Und plötzlich, völlig unerwartet, war die Angst wieder da. Sie fiel ihn an wie ein wildes Tier, das in seinem Versteck gelauert hatte. Die Furcht zu ersticken. Die anschwellende Panik, die ihm auf der Alaska die Luft geraubt hatte. Alles war wieder da. Sven und seine Krabbentouren, die Fahrt mit Aqqaluk und Maalia zum Hafen, die Kiste aus Styropor, der entsetzliche Gestank, das Schwanken. Die letzte Nacht in Nuuk. Die erste auf der Alaska.
    »Was ist los? Machst du schon schlapp?«, lachte Fridjof. »Willst du ’n Bier?«
    »Nein danke«, antwortete Jonathan. Dann stürzte er zur Kaimauer und spuckte den Inhalt seines Magens ins Meer, das Frühstück, Angas Kuchen, den Wodka und seine Erinnerungen. All das, was ihm brennend und bitter hochgekommen war.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Es war noch Nacht, als ich aufstand und den Wecker an meinem Handy ausschaltete. Ich hatte ihn nicht gebraucht, weil ich sowieso kaum geschlafen hatte. Mein Adrenalinpegel war am Abend mindestens so hoch gewesen wie der Spritpegel meines Vaters. Als ich in sein Zimmer schlich, um ihm einen Zettel hinzulegen, auf dem ich ihm alles Gute wünschte, stieß ich mit dem Fuß gegen die Batterie Bierflaschen vor seinem Bett. Er hörte das Scheppern nicht. Er lag ausgestreckt da und atmete flach und unruhig. Seine Bettdecke war runtergerutscht, ich zog sie wieder hoch. »Also dann ... mach’s gut ...«, murmelte ich und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich in all den Jahren vermieden hatte, ihn beim Namen zu nennen. Ich hatte weder Papa noch Vater noch Peter zu ihm gesagt. Ich hatte einfach drumrum geredet.
    Ich zog seine Tür hinter mir zu, nahm meine Jacke vom Haken, legte meinen Haustürschlüssel auf den Küchentisch und ging.
    Mein Plan war ganz einfach. Auf dem Weg zum Hafen würden Aqqaluk und ich an einer ruhigen Stelle anhalten, das Zeug aus einer der Kisten ins Meer kippen, ich würde hineinklettern und kurz darauf als Wal- oder Robbenfleisch deklariert mit einer Sackkarre an Bord der Alaska gerollt werden. Ich hatte an alles gedacht, hatte meinen Ausweis und all mein Geld eingesteckt,inklusive der 500 Kronen Vorschuss, die ich von Sven bekommen hatte, sogar die vier, fünf Fotos, die mir wichtig waren, hatte ich mir in die Brieftasche geschoben. Und natürlich würden wir Luftlöcher in die Kiste bohren, die ich erst einmal von innen mit einem Styroporkorken wieder verschließen würde, damit sie nicht auffielen.
    Ich lief durch das schlafende Nuuk, Grönlands Hauptstadt voller Steine und Einsamkeit, das Lichtjahre davon entfernt war, einer Hauptstadt zu ähneln. Es war so still, dass mein Atem mir verräterisch laut vorkam, nicht einmal die Betrunkenen, deren Gegröle fast immer irgendwo durch die Nacht dröhnte, waren noch wach. Die Luft war kalt, aber sie roch nicht mehr nach Schnee und Eis, sondern nach Frühling, etwas, das mir

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