Ins offene Messer
erzählen, dem kriminaltechnischen Beweismaterial, aber er spürte, daß sie zu nervös und angespannt war. «Nein, es gibt sonst niemanden», sagte er. Es hatte keinen Sinn, sie nervös zu machen. Wenn der Klient möchte, daß es einfach und simpel ist, dann hat der Klient recht.
«Ich wüßte wirklich nicht, daß es jemand anderer als Graham sein könnte», sagte sie. «Er hat das Motiv und alles.»
Sam nahm einen Stuhl und stellte ihn neben sie, drückte sie darauf. «Jane, das war rein rhetorisch. Sie haben natürlich recht. Es muß Graham gewesen sein.»
Sie beruhigte sich ein wenig, war aber immer noch besorgt. Sam verstand nicht den Grund dafür. Die Lady war bislang ziemlich cool gewesen. Nur eine beiläufige Bemerkung, und sie dreht durch.
Jane erhob sich von dem Stuhl und machte Kaffee. Irgend etwas war merkwürdig an dieser Frau. In mancher Hinsicht schien sie der Tod ihres Mannes überhaupt nicht zu berühren. Das war Sam schon vorher aufgefallen, und er dachte, sie müsse sich durch pure Willenskraft im Griff halten. Er hatte geglaubt, sie würde zusammenbrechen. Sie beerdigt den Burschen und geht wieder arbeiten, trifft alle Vorbereitungen, die Firma zu verkaufen, zählt das Geld der Lebensversicherung, und jetzt plant sie einen Urlaub. Sie ist der Haupt-, der einzige Nutznießer von Terry Deacons Tod. Sie ist einzig und allein nicht auch der Hauptverdächtige, weil Sam Turner wußte, daß sie nicht einmal in der Nähe des Hauses war, als Deacon den Löffel abgab.
Sie ließ sich malen. Oder nicht?
Sie ist in das Haus des Malers gegangen, hat ihren Wagen in der Zufahrt geparkt. Sam saß mehrere Stunden vor dem Haus. Sie hätte vorne hinein- und hinten hinausgehen können. Nach Hause fahren, Deacon umbringen und denselben Weg zurück.
Okay, hier ist eine Hypothese. Jane Deacon beginnt ein Verhältnis mit dem Maler, wie heißt er noch gleich, Watson. Sie verlieben sich und beschließen, Deacon umzubringen, sich sein Geld zu nehmen und in den Sonnenuntergang zu reiten. Jane sorgt dafür, daß Deacon einen Detektiv engagiert, der ihr folgen soll, damit sie ein hieb- und stichfestes Alibi hat, wenn sie ihren Mann umbringt.
Perfekt.
Aber das erklärt nicht Sarah Dunn, Lotta Jensen und Steven Bright. Erklärt nicht die Zettel auf jeder Leiche. Erklärt nicht, warum Graham East wie vom Erdboden verschwunden war. Erklärt nicht... genug.
«Wo sind Sie gewesen?» fragte Jane.
«Tut mir leid», sagte Sam. «Ich war in Gedanken. Hören Sie, wollen Sie ausgehen? Mal eine Weile aus dem Gefängnis herauskommen?»
«Wohin denn?»
«Egal. Worauf haben Sie Lust? Sich einen Film ansehen, einen trinken gehen, im Park spazieren? Wir müssen nicht den ganzen Abend hier rumsitzen.»
«Ich glaube kaum, daß ich mich auf einen Film konzentrieren könnte», sagte sie. «Ein Spaziergang wäre nicht schlecht, sogar ein Drink.»
«Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie soweit sind», sagte er.
Jane ging nach oben, um zu baden, sich umzuziehen.
Hier ist eine weitere Hypothese. Der Maler, wie heißt er noch gleich, Watson, ist in Wirklichkeit Graham East, verkleidet. Deshalb kann niemand Graham East finden. Jane Deacons Affäre mit Watson ist eigentlich eine Affäre mit Graham. Sam, du hast zu viele Filme gesehen. Die blonde Lady bricht zusammen, also fängst du an, sie in das Bild einzubauen. Du hast prophezeit, sie würde unter der Belastung von allem, was ihr passiert ist, zusammenbrechen, und sobald sie es dann tut, endlich anfängt, ganz normal zu reagieren, da hältst du sie gleich für eine Massenmörderin.
Vergiß es.
Sam trank seinen Kaffee aus und machte seine allabendliche Runde. Die Walther, die Fenster im Erdgeschoß und die Tür in den Garten. Zwei weitere Kapitel Simenon, während er auf die Lady wartete. Sie kam die Treppe herunter in einem ärmellosen, malvenfarbenen Kleid, kurz, sehr kurz. V-Ausschnitt, vorne geknöpft, eine dünne Goldkette um den Hals. Sonnengebräunte Beine, die endlos lang zu sein schienen, und flache Schuhe. Etwas Augen-Make-up, aber nichts auf den Lippen. «Ist das zu übertrieben?» fragte sie.
«Ja», sagte Sam. «Perfekt. Wo gehen wir hin?»
«Sollen wir einfach losgehen? Und sehen, was sich ergibt?»
Es war einer der seltenen, schwülen Sommerabende, an denen die Menschen auf die Straßen hinausströmen, in die Parks. Mädchen und Frauen in Baumwollkleidern, Männer in Hemdsärmeln trugen ihre Jacken, die alten Leute besetzten jeden Zentimeter der Bänke. Vor jedem Pub,
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