Insektenstachel
diese Sache, aber im Augenblick verkniff er sich jeglichen Kommentar.
»Ein halbes Jahr später verlor ich mein Augenlicht«, fuhr Mrs Hazelwood mit ihrer Erzählung fort. »Manchmal rede ich mir ein, dass das die gerechte Strafe für mein Verhalten war. Das ist natürlich albern, aber dennoch überkommen mich hin und wieder solche Gedanken. Ich kann nichts dagegen tun.« Sie erhob sich vom Stuhl und rieb sich verzweifelt die Hände. »Und nun komme ich zu dem Punkt, der mich das Fürchten lehrt und mir seit heute früh den Atem stocken lässt …«
Trauma
Mrs Hazelwood lehnte sich an die Kühlschranktür und vergrub ihre Hände in den Rocktaschen. »Seit meiner Kindheit leide ich unter einem schrecklichen Trauma. Ich war damals sieben Jahre alt und wurde von unheimlichen Albträumen heimgesucht. Ihr müsst wissen, dass meine Nasenflügel von Geburt an zu eng zusammen stehen. Durch sie kriege ich schlecht Luft und atme deshalb meist durch den Mund. Als ich dann das erste Mal bei einer Freundin übernachtete, lachte sie mich am nächsten Morgen aus und zog mich damit auf, dass ich beim Schlafen wie eine Mumie aussehen würde, da mein Mund so verformt offen stand. Ich lachte mit, weil ich den Vergleich sehr originell fand, und dachte mir nichts dabei. Doch irgendwie musste mich diese Bemerkung innerlich getroffen haben, denn einige Nächte später träumte ich, dass sich ein Spinnennest unter meinem Bett befand. Die Spinnen waren hungrig und auf der Suche nach Beute. Während ich schlief, krabbelten unzählige von ihnen in meinen Mund, um in meinem Magen etwas Essbares zu finden. Doch einige der Spinnen verirrten sich und landeten in meiner Luftröhre. Ich bekam Erstickungs- und Würgeanfälle, bis ich mich plötzlich aufrecht sitzend und schweißgebadet in meinem Bett wiederfand. Es dauerte etliche Sekunden, bis mir bewusst wurde, dass es nur ein furchtbarer Albtraum gewesen war und nicht die Realität.«
Peter blieb der Keks beinahe im Hals stecken. Mrs Hazelwoods Geschichte hatte ihm gründlich den Appetit verdorben.
»Und was geschah dann?«, wollte Justus wissen.
»In den folgenden Nächten wurde ich dauerhaft von ähnlichen Albträumen meines Schlafes beraubt. Darin tauchten immer wieder Insekten auf, die in jeder erdenklichen Art in meinen Körper einzudringen versuchten. Als ich meinen Eltern davon erzählte, wurde ich gar nicht ernst genommen. ›Träume sind Schäume; sie haben mit der Realität nichts zu tun‹, war das Einzige, was mein Vater dazu sagte. Das half mir allerdings wenig. Trotzdem versuchte ich, mir diesen Leitsatz jeden Abend vor dem Schlafengehen einzureden.«
»Mit Erfolg?«, erkundigte sich Bob knapp. Er wollte die Dame in ihrem Redefluss nicht vom Weg abbringen.
»Nach einigen Nächten verblassten diese grausamen Träume tatsächlich und rückten mehr und mehr in den Hintergrund, bis sie schließlich ganz verschwanden. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Nacht, in der ich seit langem wieder einen angenehmen Traum hatte. Ich war in unseren Nachbarjungen verliebt und träumte, wie wir lachend, Eis essend und die Taschen voller Geld durch Disneyland spazierten. Als ich aufwachte, hätte ich die ganze Welt umarmen können. Ich fühlte mich wie von einem bösen Fluch befreit.« Ihr kurzes Lächeln wich dem Ausdruck von Verzweiflung. »Das Leben ist oftmals zynisch. Denn nachdem ich meinen ruhigen Schlaf endlich wiedergefunden zu haben glaubte, wurden die düsteren Albträume Realität. Bereits am nächsten Tag spielte ich mit meinen Freunden im nahe gelegenen Wald Verstecken. Ich habe noch deutlich vor Augen, wie ich, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck, einen steilen Hügel hinabkletterte. Plötzlich verlor ich das Gleichgewicht und stürzte auf einen abgeschlagenen, morschen Baumstamm. Unter der Wucht meines Aufpralls zerbröselte das vermoderte Holz – und das war mein Verhängnis. In dem hohlen Stamm befand sich nämlich ein Wespennest. Die aufgebrachten Wespen stürzten sich sogleich auf mich und richteten mich so übel zu, dass ich dem Tod nur knapp entkommen bin.«
»Daher also rührt Ihre Insektenphobie«, schlussfolgerte Justus, der sich jeden Satz von Mrs Hazelwood genauestens einprägte. »Die Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen. Ich hatte mich schon gefragt, weshalb Sie gestern auf die Hornisse im Badezimmer so hysterisch reagierten. Sie schienen mir noch größere Angst vor dem Insekt zu haben als Laura. Sie waren ja kaum fähig zu sprechen,
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