Insel der Freibeuter
allem dann, wenn er zusah, wie der Bug der
Jacare geschmeidig durch das Wasser glitt und das Schiff über dem Wasser dahinschwebte wie ein riesiger Albatros, der genau wußte, daß ihm in diesem Meer von einem Horizont zum anderen nichts Böses
drohte.
Wer träumte nicht davon, ein Schiff zu besitzen,
mit dem man die äußersten Regionen der Welt erreichen konnte, ohne Grenzen außer denen der eigenen Person, ohne Gesetze außer denen, die man selbst
diktierte? So wog Sebastian die folgenden vierzig Stunden wie besessen das Für und Wider seiner Ta-ge ab, die so anders verlaufen würden als bisher.
Zu guter Letzt kam er zu dem Schluß, daß er zu
keiner
Entscheidung gelangen konnte, ohne nicht vorher
seinen Vater um Rat gefragt zu haben, obwohl er
wußte, daß dieser wie schon seit Jahren wahrscheinlich jegliche Verantwortung von sich weisen würde.
»Ein schönes Schiff«, murmelte Miguel Heredia
Ximénez, nachdem er mit ungewohntem Interesse
den Ausführungen seines Sohnes zugehört hatte.
»Und jeder, der etwas wirklich Schönes besitzt, lebt mit der Angst, daß man es ihm entreißt. Wenn du
deine Perlen an verschiedenen Orten aufbewahrst,
kann sie dir niemand alle rauben, doch ein Schiff kann man nicht teilen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Schiff ist wie eine Frau: Man kann es dir nehmen.«
»Ich werde es zu verteidigen wissen.«
»Bist du bereit, dafür zu töten?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann finde es heraus, bevor du eine Entscheidung triffst, denn du kannst sicher sein, daß eine Menge Leute sehr wohl bereit sein werden zu töten, um es dir zu rauben.« Er sah ihm in die Augen. »Glaubst du, es lohnt sich?«
»Hängt vom Toten ab.«
»Einen ehrenwerten Mann reut der Tod eines Mist-
kerls mehr als einen Mistkerl der Tod eines Un-
schuldigen.«
Diese Lehre seines Vaters blieb Sebastian am tiefsten und für alle Zeiten im Gedächtnis haften. In diesem schlichten Satz lag die Quintessenz seiner Werte und seiner Weltanschauung.
Wie die überwältigende Mehrheit der Menschen
mit reinem Gewissen wog Miguel Heredia Gut und
Böse ganz anders ab, als es sein Sohn jetzt tun muß-
te. Was ihn in erster Linie beunruhigte, war die Tatsache, daß die Kriterien, die sein Sohn für seine Entscheidung anwenden mußte, nichts mit den Moral-
vorstellungen zu tun hatten, die er ihm von Kindheit an einzuimpfen versucht hatte.
Es war ihm aber klar, daß er auf das Schicksal des Jungen ebenso jeglichen Einfluß verloren hatte wie auf sein eigenes. Daher beließ er es dabei, den abge-nutzten Wetzstein wieder in die Hand zu nehmen,
um seine passive Beschäftigung wieder aufzuneh-
men, und murmelte gleichzeitig:
»Einen armen Irren um Rat zu fragen kommt aufs
gleiche hinaus, wie einen armen Teufel um Almosen zu bitten: Das einzige, was du erreichst, ist seine Demütigung.«
Daß ein Mensch sich selbst als armen Irren be-
zeichnete, war eigentlich sehr seltsam, doch hatten die vergangenen fahre, die er mit stumpfsinnigem
Messerschleifen zugebracht hatte, Miguel Heredia –
der im Grunde niemals verrückt gewesen war zur
bitteren Schlußfolgerung veranlaßt, daß er tatsächlich geisteskrank war, und offensichtlich hatte er keine Scheu, das offen zuzugeben.
Kurz bevor in dieser Nacht ein roter Halbmond am
Horizont erschien, nahm Lucas Castano neben dem
Jungen aus Margarita am Vordersteven des Schiffs
Platz und wollte wissen:
»Und nun?«
Sebastián musterte ihn eisern, um seinerseits zu fragen:
»Wem kann ich vertrauen?«
»Dir selbst.«
»Niemandem sonst?« entsetzte sich der Junge.
»Das scheint dir wenig?« lautete die ironische
Antwort. »Was hilft es dir, auf hundert Männer zu vertrauen, wenn du selbst scheiterst?« Der Panamese deutete vielsagend auf das Achterkastell. »Dort
schläft der Kapitän, so vom Fieber geschüttelt und von den Würmern zerfressen, daß er kaum noch eine Waffe halten kann, doch nicht einer dieser Mistkerle hat auch nur den Mumm, die Stimme zu heben.« Er
grinste übers ganze Gesicht: »Du mußt lernen, zu
befehlen.«
»Und wer bringt mir das bei?«
»Das lehren sie nicht einmal in Salamanca, mein
Sohn. Nicht einmal dort.«
Im Morgengrauen rief der Schotte Sebastián zu
sich in die Kajüte.
»Wie hast du dich entschieden?«
»Ich werde das Schiff nehmen.«
»Und die Flagge?«
»Die auch.«
»Wenn das so ist, solltest du auch meinen Namen
übernehmen. Du tust mir damit einen Gefallen, und dir übrigens auch.«
»Warum das denn?« erstaunte
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