Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
zerteilte sich in Federn, seine Arme und Beine zogen sich ein, wurden zu Flügeln und Krallen. Einen Moment später flog der weiße Adler auf. In einer weiten Spirale kreiste er hinauf in den Himmel, wieder zuckten Hunderte Blitze gleichzeitig. Eleni musste ihre Augen schließen, um das grelle Licht zu ertragen.
Als sie wieder aufsah, war der Adler verschwunden. Ein letztes Mal reflektierte das Wetterleuchten noch an den schwarzen Säulen des Tempels – dann lag nur noch die Ausgrabungsstättevor ihr, ein großes Quadrat in der Erde und darüber ein zerfetztes Sonnensegel.
Die Stimmung in der fremden Küche war sonderbar. Die Großmutter der Mädchen hatte ihr einen Platz angeboten, aber Philine war lieber mitten im Raum stehen geblieben. Sie konnte sich nicht hinsetzen, solange Eleni allein dort draußen war, inmitten des tobenden Gewitters, mit dem riesigen Adler auf ihrem Arm.
Doch am seltsamsten war es, dass die Erwachsenen vollkommen gelassen erschienen. Während draußen der Sturm wütete, stand Elenis Oma seelenruhig am Herd und kochte Kakao. Auch Elenis Mutter schien sich keine Sorgen zu machen. Sie saß in ihrem Pyjama am Küchentisch und lächelte still und geheimnisvoll. Nur Leándras Blick wanderte unruhig von einem zum anderen. Sie saß ihrer Mutter gegenüber und hatte gerade erzählt, was draußen passiert war. Jetzt sah sie aus, als würde sie auf eine Antwort warten.
Aber die Antwort kam nicht. Stattdessen spürte Philine, wie sich die unausgesprochenen Fragen in der Luft sammelten, wie die Spannung in dem Raum anwuchs, bis sie in ihren Ohren knisterte.
Philine kannte diesen Druck, der einen Ort erfüllte, kurz bevor es zu einem Streit kam. Ganz deutlich spürte sie, dass Leándra dem Druck nicht länger standhalten würde. Die Erwachsenen schienen Dinge vor ihr zu verschweigen, sie schienen mehr über diesen Sturm zu wissen, und Leándras Wut darüber brodelte unter der Oberfläche.
Philine konnte nicht länger zusehen. Sie konnte niemals dabei zusehen, wenn Menschen sich stritten. Wann immer sieden Druck in der Luft wahrnahm, wollte sie die Streitenden von ihrer schlechten Stimmung befreien.
Es war so einfach. Philine atmete tief ein, um die Spannung aus dem Raum zu ziehen. Mit jedem Atemzug verlor die Luft ihre Schwere, bis sich Leándras Miene tatsächlich entspannte. Doch die Schwere strömte in Philines Brust und legte sich mit einem dumpfen Druck um ihr Herz. Es war Leándras Gefühl, und Philine erkannte, dass es die Sorte von Zorn war, die über lange Zeit wuchs und sich anstaute, ehe sie ausbrach und zu einem Streit eskalierte.
Philine hatte Leándra von dem Zorn befreit und jetzt musste sie ihn selbst besiegen. Es würde einen Moment dauern, aber dann würde sich das Gefühl in ihrem Herzen auflösen – weil es darin so fremd war, dass es keinen Halt finden konnte.
Plötzlich öffnete sich die Küchentür. Philine fuhr herum und sah Eleni entgegen. Auch die anderen hielten inne und blickten zu dem dunklen Mädchen, das zur Tür hereinkam.
Eleni sagte kein Wort. Ihre Bewegungen waren so ruhig, als würde sie noch immer schlafwandeln. Aber ihr Blick gehörte Philine. Sie sahen einander an, während Eleni auf sie zukam. Ein stummes Versprechen sprang zwischen ihnen hin und her und versicherte ihnen, dass sie von nun an Freundinnen waren.
Einen Moment später glitt Elenis Blick an ihr vorbei und richtete sich aus dem Fenster, fast so, als würde ein Teil von ihr zu dem Sturm gehören, der dort draußen wütete.
»Ist sie wach?« Leándras Tonfall klang ängstlich.
»Das frage ich mich auch.« Ihre Oma hatte sich zu ihnen umgedreht und beobachtete Eleni von hinten.
Eleni reagierte nicht auf die Fragen. Mit langsamen Schrittentrat sie ans Fenster. Philine folgte ihr und stellte sich neben sie. Gemeinsam schauten sie über die Klippen hinweg auf den Wirbelsturm, der über dem Meer kreiste.
Ganz langsam schien die schwarze Wolke in die Breite zu wachsen und riss schließlich in der Mitte auf. Seltsame Konturen schälten sich daraus hervor, bis sich zwischen den Wolken ein Berg aus dem Meer erhob. Er wurde immer breiter, immer höher ... ein zweiter Berg tauchte daneben auf, gleich darauf ein dritter und ein vierter, die sich um den höchsten Berg in der Mitte gruppierten. Immer wieder verschwand die seltsame Erscheinung hinter der wirbelnden Wolke und jedes Mal, wenn das Gebirge auftauchte, war es noch gewaltiger geworden.
Eine dunkle Furcht pochte in Philines Brust.
Sie griff
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