Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
Würgen in Richtung Boden.
Überall standen nun die Schatten hinter den Menschen, Streit und Angst mischten sich ineinander, ließen den Druck in der Luft bis ins Unerträgliche anwachsen. Philine atmete vorsichtig ein. Allzu gerne wollte sie die Menschen von ihrer Stimmung befreien, doch der Druck, der sie umgab, fühlte sich unnachgiebig an, so zäh wie ein Spinnennetz, in dem Philine nur eine kleine wehrlose Fliege war. Selbst wenn sie es wagte, sich gegen die Kreaturen zu stellen, sie konnte nichts gegen sie ausrichten. Im schlimmsten Fall würde sie nur ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
»Philine!« Eleni wimmerte auf. »Der alte Mann!« Sie zeigte mit dem Finger auf den alten Alexandros. Er war ein wenig vom Feuer abgerückt und saß nun am Rand der Menschengruppe. Hinter ihm stand eine große schmale Gestalt, ein Schatten, der vollkommen regungslos verharrte und noch dunkler erschien als all die anderen.
Philine kam es vor, als hätte der alte Mann den Schatten bemerkt. Dennoch schien er sich nicht gegen ihn zu wehren. Ruhig und gefasst saß er auf seinem Hocker und sah aus, als würde er auf etwas warten.
»Er wird sterben«, wisperte Eleni.
Philine schauderte. Sie wusste, dass ihre Freundin die Wahrheit sagte, dennoch durfte sie es nicht zulassen! Niemand sollte durch diese Schatten sterben! »Nein.« Sie sprang auf und wollte ihm helfen.
Eleni riss sie an ihrem T-Shirt zurück und zog sie nebensich auf den Boden. »Er wird sterben«, flüsterte sie. »Ob wir eingreifen oder nicht. Seine Zeit ist gekommen.«
Philine sank in sich zusammen. Eleni hatte recht. Sie besaß vielleicht die Fähigkeit, gewöhnliche Menschen zu besänftigen. Aber gegen diese Schatten konnte sie nichts ausrichten. Sie würde sich nur selbst in Lebensgefahr bringen.
Plötzlich brach Leándra durch den Kreis der schwarzen Gestalten, sie lief einfach durch die Schattenkörper hindurch und sah sich suchend in der Dunkelheit um. Doch sie war nicht allein. Hinter ihr humpelte die hutzelige alte Frau und kicherte leise vor sich hin.
Eleni sprang auf, schneller, als Philine sie zurückhalten konnte. »Leándra! Pass auf! Hinter dir!«
Leándra wirbelte herum, suchte mit panischer Bewegung nach irgendeiner Bedrohung. Doch sie schien die Schattenfrau nicht zu sehen.
Erstaunlich wendig sprang die Alte um Leándra herum und fasste ihr in den Nacken.
Leándra drehte sich zurück nach vorne und fand ihre Schwester in der Dunkelheit. Ein schreckhafter Schimmer lag in ihren Augen und verwandelte sich in blitzende Wut. »Findest du das komisch?« Sie schrie Eleni an. »Hör endlich auf mit diesen Gruselspielchen! Ich bin es leid, so eine Horrorschwester zu haben!« Sie blieb vor ihnen stehen und blitzte abwechselnd in Elenis und Philines Richtung.
Die alte Frau hinter ihr kicherte vor Wonne.
Leándra verzog das Gesicht und deutete mit dem Finger auf ihre Schwester. »Seitdem du deine tolle neue Freundin gefunden hast, ist alles nur noch schlimmer geworden! Ihr seid das perfekte Team: zwei abgedrehte Freaks!«
Plötzlich fing die Alte an, sich zu verändern. Ihre Haare wurden dunkler und ihre Haltung aufrechter. Je mehr Leándra sich aufregte, desto jünger schien sie zu werden. Auch ihr Kichern veränderte sich. Wenn es anfangs noch krächzend und alt geklungen hatte, so wehte es inzwischen frisch und leicht über die Hochebene. Sie ließ ihre Finger in Leándras Nacken tanzen und brachte sie dazu, immer weiterzuschreien: »Was treibt ihr eigentlich so, wenn ihr zusammen verschwindet? Die finsteren Mächte beschwören? Damit sie uns bald das Licht zum Leben nehmen?« Leándras Stimme wurde immer heiserer. Beinahe als würde die alte Frau ihr die Kräfte entziehen, mit denen sie ihre Jugend erneuerte.
Philine und Eleni hielten den Atem an. Sie wagten es nicht, etwas zu sagen. Die alte Frau durfte nicht wissen, dass sie beobachtet wurde.
Plötzlich kam eine weitere Schattenfrau aus der Dunkelheit. Ihr Gang erschien weich und anmutig. Im Gegensatz zu den anderen Gestalten, lag ihre Kapuze nur halb über ihrem Kopf und ließ das Gesicht darunter erkennen. Ihre Haut war so blass wie Schnee, aber ihre dunklen Augen erschienen sanft.
Die junge Frau lächelte. Während sie an der kichernden Hexe vorüberging, fing sie an zu sprechen: »Noch sind Freundschaft und Zuneigung stärker als Zwietracht und Neid!«
Ihre Stimme klang zärtlich, so betörend, dass Philine ganz still stehen musste, um ihr zuzuhören.
Die alte, jung gewordene Frau
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