Insel der Schatten
und du nicht da warst«, gestand er. »Nach der letzten Nacht hätte ich mich nicht gewundert, dich als verkrümmtes Häufchen Elend am Fuß der Treppe zu finden!«
»Oder draußen unter dem Fenster des zweiten Stocks.«
Er sah mich eigentümlich an. »Eine interessante Bemerkung.«
Ich drehte ein paar Nudeln um meine Gabel und überlegte, wie ich den einmal eingeschlagenen Gesprächskurs beibehalten könnte.
Will brach das Schweigen schließlich. »Willst du damit sagen, Julies dreißig Jahre zurückliegender Tod könnte in irgendeinem Zusammenhang mit dem stehen, was mir letzte Nacht zugestoßen ist?«
»Ich bin mir nicht sicher …«, bekannte ich. »Aber Tatsache ist und bleibt, dass Iris – ob sie es nun frei erfunden oder auch nur ausgeschmückt hat – mir erzählte, ihre Cousine wäre über den Rand der Klippe gestoßen oder getrieben worden. Was sie übrigens nicht überlebt hat. Und meine Großmutter Amelia ist während ihrer Schwangerschaften auch mehrmals auf rätselhafte Weise gestürzt. Dabei hat sie immerhin zwei Babys verloren, Will.« Die Gedanken nahmen Gestalt an, wurden realer, als ich sie laut aussprach. »Außerdem ist hier vor dreißig Jahren ein Kind im Haus gestorben, weil es aus einem Fenster gestoßen oder geworfen wurde. Und jetzt ist dir etwas ganz Ähnliches passiert! Das ist doch alles kein Zufall mehr. Hier geht doch etwas vor!«
»Als da wäre?«
Noch während ich die Worte aussprach, kam ich mir wie eine übergeschnappte Irre vor, aber es musste endlich einmal gesagt werden. »Ich glaube, hier spukt ein Geist herum, der eine Vorliebe dafür hat, Leute in den Tod zu treiben.«
Ein paar Minuten lang aßen wir schweigend weiter. Scheinbar überlegten wir beide, ob wir es wagen sollten, diesen gefährlichen Faden weiterzuspinnen. Dann meinte Will:
»Hallie, du weißt, wie ich über diese Geistergeschichte denke, aber es könnte ja trotzdem nichts schaden, einen Priester zu Rate zu ziehen.«
»Ganz sicher nicht«, stimmte ich zu. »Er soll dieses Haus segnen, stimmt’s? Ja, das könnte helfen. Wir werden uns gleich morgen darum kümmern.«
Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus.
»Es gibt da auch noch eine andere Möglichkeit …«, begann ich dann zögernd. »Vielleicht sollten wir uns an ein Medium wenden.«
Will hob die Brauen, ehe er einen weiteren Bissen zum Mund führte.
»Mal im Ernst, Will, solche Leute verdienen sich ihren Lebensunterhalt damit, Kontakt mit Toten aufzunehmen. Eventuell können wir auf diese Weise herausfinden, ob wir wirklich einen Geist im Haus haben, und wenn ja, wer er ist.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, Hallie …«
»Macht es denn einen Unterschied, ob ein Priester oder ein Medium einen Geist austreibt?«
Will dachte kurz darüber nach. »Abgesehen davon, dass hinter dem Geistlichen die Autorität der Kirche steht, wohl keinen großen, schätze ich. Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, ob es für all diese Vorkommnisse nicht doch eine logische Erklärung gibt, aber was auch immer du tun willst, du kannst auf mich zählen.«
Ich drückte seine Hand. »Ich möchte das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen. Am besten, wir fangen gleich morgen an.«
Er nickte. »Wie du willst.«
Ich stand auf und begann in der Küche herumzustöbern. »Stehen Medien eigentlich im Telefonbuch? Und habe ich überhaupt eins vom Festland?«
»Du brauchst keins«, versetzte er lächelnd. »Ich kenne ein Medium. Und du auch.«
»Behaupte jetzt nicht, du wärest eins, sonst ist meine Rache fürchterlich!«, drohte ich ihm grinsend.
Will musste lachen. »Ich werde mich schön hüten! Nein, ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht aus. Aber Mira.«
Ich starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Das konnte nicht sein Ernst sein! »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Doch Will schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ich weiß jetzt auch nicht so genau, ob sie nur blufft, aber sie bezeichnet sich offiziell als medial begabt .« Er betonte die letzten beiden Worte etwas übertrieben und zog dann in gespielter Furcht die Brauen hoch.
Ich prustete vor Lachen.
»Das stimmt!«, beharrte er. »Während der Touristensaison legt sie beispielsweise in einer kleinen Hütte Tarotkarten und veranstaltet Führungen zu den verwunschenen Flecken der Insel. Die sind sehr beliebt, die Leute gruseln sich nun einmal gern! Und Mira macht ihre Sache wirklich gut.«
»Dass sie geschäftstüchtig ist, weiß ich, aber
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