Insel der Schatten
»Iris, Sie haben nie erwähnt, dass auch meine Mutter von den Drillingen behelligt worden ist. Charles wurde ja von seinen Tieren beschützt, aber wer beschützte meine Mutter?«
Die alte Haushälterin winkte ab. »Na, Sadie stellte sich natürlich zwischen die Mädchen und Ihre Mutter! Aber vor allem waren es die Kamera und Madlyns einzigartige Gabe, Seelen einzufangen, die die Drillinge in Schach hielten. Sie wussten, dass sie nicht zu weit gehen durften. Zumindest war es während Maddies Jugend so. Als sie allerdings Ihren Vater kennenlernte und ihn in dieses Haus brachte, änderte sich das.
In diesem Jahr war Ihre Mutter zwanzig geworden. Sie hatte sich als Fotografin bereits einen Namen gemacht, lebte in New York und reiste im Auftrag von National Geographic und anderen Reisemagazinen kreuz und quer durch die Welt. Doch in jenem Sommer kam sie auf die Insel zurück, weil Amelia krank war. Sie litt an Krebs, was aber damals noch niemand wusste, und war zusehends schwächer geworden. Charles, der außer sich vor Sorge um seine Frau war und wohl auch schon das Schlimmste befürchtete, bat daraufhin Ihre Mutter, nach Hause zu kommen.
Madlyn war ihren Eltern ein großer Trost, wie Sie sich ja sicher vorstellen können. Die drei verbrachten jeden Tag zusammen, auch wenn sie nur zu Hauses saßen und lasen oder Amelia, die inzwischen an den Rollstuhl gefesselt war, auf die Klippe schoben, um dort ein Picknick zu veranstalten. Es war, als wollten sie jeden Moment gemeinsam auskosten, der Amelia noch blieb. Sie starb im August desselben Jahres.« Iris seufzte tief. »Charles trauerte unbeschreiblich um sie. Er kam über ihren Verlust nie hinweg, obwohl er sich schon bald wieder in seine Arbeit stürzte. Seine Tiere spendeten ihm während jener ersten furchtbaren Zeit Trost und Kraft.
Madlyn wurde im nächsten Monat wieder in New York erwartet und zerbrach sich vor allem den Kopf darüber, was dann aus ihrem Vater werden sollte, als sie Noah Crane traf.«
Ich zog lächelnd die Füße unter mich und machte es mir auf dem Sofa gemütlich. Jetzt kamen wir zum wirklich interessanten Teil.
»Noah arbeitete den Sommer über zusammen mit ein paar Freunden vom Festland in einem Hotel hier auf der Insel. Ihre Mutter traf ihn eines Abends in einem Lokal in der Stadt. Er fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, so wie es den meisten Menschen erging. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass es diesmal Madlyn auch so ging.
Schon bald war ihr klar, dass sie nicht mehr in ihr New Yorker Apartment zurückkehren würde. Und er wusste, dass er den Posten als Lehrer, der im Herbst auf dem Festland auf ihn wartete, nicht antreten würde. Nur ein paar Tage nach ihrer ersten Begegnung beschlossen beide, auf Grand Manitou zu bleiben und sich hier ein gemeinsames Leben aufzubauen. Na, Hallie? Ich sehe Ihnen an, dass Sie gerne etwas mehr über diese Zeit hören möchten.« Iris musterte mich nachsichtig. »Die beiden taten, was alle frisch verliebten Paare tun: Sie gingen essen, tanzen, veranstalteten Picknicks und unternahmen lange Spaziergänge. Aber vor allem redeten sie. Noah und Madlyn standen sich schnell sehr nah.«
Das kam mir bekannt vor. Genauso ging es mir mit Will.
Iris fuhr fort: »Ihr Vater bewarb sich an der kleinen Schule der Insel und hatte Glück – das Kollegium suchte zufällig gerade einen Mathematiklehrer und stellte ihn prompt ein. Madlyn informierte derweil die Redakteure der Zeitschriften, für die sie tätig war, dass sie ihren Wohnsitz von New York nach Grand Manitou verlegen, aber trotzdem nach wie vor Auslandsaufträge annehmen würde. Alles fügte sich so problemlos zusammen, dass Madlyn von Anfang an vermutete, der Geist ihrer Mutter müsse irgendwie seine Hand im Spiel gehabt haben.
Womit sie natürlich ins Schwarze traf. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass Amelia Noah an jenem Abend in dem besagten Lokal in sein Ohr geflüstert hatte, er solle sich umdrehen als Madlyn an ihm vorbeiging. Hätte sie das nicht getan, wären Sie vermutlich nie geboren worden.
Sie raunte den beiden auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu, sie sollen auf der Insel bleiben, und ihre Saat ging auf. Ja, es war Amelia zu verdanken, dass Noah und Madlyn ein Paar wurden und sich hier niederließen. Sie tat das alles natürlich für ihren geliebten Charles, denn sie konnte die Vorstellung, dass er den Rest seines Lebens allein verbringen musste, nicht ertragen und wusste, wie sehr er auf seine Tochter angewiesen
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