Insel der Schatten
Sie’s«, wehrte ich ab. »Ich wollte ja nur sichergehen.« Was ich wirklich wollte, war, dass sie aufhörte, mich so anzustarren, und endlich mit ihrer Geschichte fortfuhr.
»Ich habe ja schon angedeutet, worin Madlyns besondere Gabe bestand«, begann sie. »Sie verfügte über die Fähigkeit, die Seelen anderer Menschen in ihren Fotos einzufangen. Wussten Sie eigentlich, dass viele Kulturen an die Macht von Spiegeln glauben?«
»Ja, davon habe ich schon gehört«, nickte ich.
»Viele Leute sind davon überzeugt, mithilfe von Spiegeln ließe sich die Zukunft vorhersagen, und man könne sich mit ihnen menschliche Seelen untertan machen. Und wer das Pech hat, einen zu zerbrechen, dem droht Unheil.«
»Sieben Jahre Unglück!«, warf ich ein.
»Ganz genau – eben weil Spiegel die menschliche Seele einfangen. Manche antiken Völker hielten sie auch für Pforten zur Unterwelt, die es Menschen und Geistern erlaubten, zwischen den zwei Welten hin und her zu reisen.«
»Und was hat das mit meiner Mutter und ihrer Fotografie zu tun?«
»Kameras enthalten Spiegel, meine Liebe. Und im Gegensatz zu Spiegeln, die nur vergängliche Bilder wiedergeben, halten diese solche fest, die bestehen bleiben.«
»Natürlich!«, entfuhr es mir. »Davon habe ich schon gehört: Die Indianer weigerten sich zum Beispiel, sich fotografieren zu lassen. Crazy Horse, der berühmte Siouxhäuptling, hat noch auf seinem Totenbett niemandem gestattet, ihn abzulichten.«
Iris lächelte wie eine Lehrerin, deren Schüler endlich begriffen hatten, worauf sie hinauswollte. »Ja, Kind. Und warum wohl?«
»Weil er fürchtete, der Fotoapparat würde ihm seine Seele rauben.«
»Ganz genau! Und er hatte recht damit. Eine Kamera kann genau wie ein Spiegel die Seele desjenigen einfangen, dessen Bild sie zeigt. Aber dazu muss sie sich in den richtigen Händen befinden.
Ihre Mutter hatte solche Hände. Es war ihre Gabe, aber sie erkannte sie nicht sofort. Niemand erkannte sie zunächst. Aber schon von klein auf zog es die kleine Maddie zur Fotografie hin. Als sie ungefähr fünf Jahre alt war, wünschte sie sich zum Geburtstag eine Kamera. Da Charles seiner Tochter nichts abschlagen konnte, kaufte er ihr eine, obwohl er überzeugt war, dieser Wunsch würde nur einer vorübergehenden Phase entspringen, und er würde letztendlich derjenige sein, der sie benutzen würde.
Doch ab diesem Tag sah man Madlyn nie wieder ohne ihren Fotoapparat. Sie nahm ihn überall mit hin. Als Ihr Großvater die ersten entwickelten Aufnahmen zu Gesicht bekam, war er von deren Qualität und Originalität zutiefst beeindruckt. Er hatte kindliche Schnappschüsse erwartet – abgeschnittene Köpfe, verwackelte Landschaften und so weiter. Stattdessen stellte er fest, dass seine kleine Tochter wunderschöne Portraits von ihm, seiner Frau und verschiedenen Gästen, die bei ihnen zu Besuch gewesen waren, aufgenommen hatte. Am besten gefielen im Maddies Bilder von seinen Tieren; den Pferden in der Scheune und den Hunden. Zu seiner Verwunderung erkannte er sofort, dass die Aufnahmen seiner Tochter diese Tiere von einer Seite zeigten, die nur er bisher zu kennen geglaubt hatte.
Wie Sie sich vorstellen können, wollte Madlyn später keinen anderen Beruf ausüben als Fotografin. Kurz nach ihrem Highschoolabschluss arbeitete sie bereits für einige renommierte Zeitschriften und Reisemagazine. Sie war fest entschlossen, schnellstmöglich Karriere zu machen.«
»Sie haben mir viel von den Begabungen und Talenten meiner Mutter erzählt, aber sehr wenig darüber, was für ein Mensch sie war«, unterbrach ich. »Das würde mich aber mindestens genauso interessieren.«
»Madlyn war ein kompliziertes Mädchen«, begann Iris, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte. »Manchmal war sie eine Freude, manchmal eine Plage, so wie viele Halbwüchsige, denke ich. Sie machte schwermütige Phasen durch, während derer sie mit niemandem sprach – außer mit ihrer Zwillingsschwester natürlich. Zu diesen Zeiten schien der Geist ihrer Schwester auf ihr zu lasten und sie niederzudrücken. Diese düsteren Stimmungen überkamen sie ihr ganzes Leben lang, auch nachdem sie Ihren Vater kennengelernt hatte. Aber genauso oft war es ein einziges Vergnügen, mit Madlyn zusammen zu sein. Sie war eben ganz Charles’ Tochter: fröhlich, gutmütig und immer hilfsbereit. Und dann begegnete sie Ihrem Vater.«
Der Gedanke an meine jungen Eltern entlockte mir ein Lächeln. Doch dann fiel mir etwas anderes ein.
Weitere Kostenlose Bücher