Insel der Schatten
der Küche um. Ich wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen. Schließlich rief ich Mira im Manitou Inn an, denn ich wollte herausfinden, warum sie mir verschwiegen hatte, dass ausgerechnet sie unseren umgestürzten Kajak gefunden hatte, und dachte, wir könnten uns vielleicht zusammensetzen und uns darüber austauschen. Aber ich hatte kein Glück. Ihr Anrufbeantworter teilte mir mit, dass sie für ein paar Tage auf das Festland hinübergefahren war.
Eine Weile strich ich rastlos durch das Haus, tigerte von der Küche zum Esszimmer und von dort aus zum Wintergarten, fand aber nirgendwo Ruhe.
Ich begann über Will und den Umstand nachzudenken, dass er Iris’ Geschichten keinen Glauben schenkte. Sie klangen zu unglaubwürdig, um wahr zu sein; Iris musste Geschehnisse aus der Vergangenheit ausgeschmückt oder schlichtweg frei erfunden haben, hatte er gesagt. Aber nach seinem Sturz brauchte ich Gewissheit – bildete ich mir all diese übernatürlichen Dinge nur ein, oder trieb auf diesem Anwesen wirklich ein Geist sein Unwesen? Ein Geist, der gern Leute die Treppen hinunterstieß …
Und dann spann ich den Gedanken weiter: die Treppen hinunter und aus dem Fenster stieß .
27
Ich rief die Hunde, griff nach einer dicken Strickjacke, die über einem Küchenstuhl hing, und lief durch die Hintertür in den Wind hinaus.
Ich musste unbedingt aus dem Haus. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, und ich wollte wieder einen klaren Kopf bekommen. Nachdem ich die Jacke eng um mich geschlungen hatte, ging ich die Auffahrt hinunter und trat, von den Hunden begleitet, auf die Straße. Bei jedem Schritt raschelte Laub unter meinen Füßen.
Während ich durch die kahle Landschaft wanderte, wurde mir eines klar: Ich musste mich mit einer von zwei wenig erstrebenswerten Wahlmöglichkeiten auseinandersetzen. Entweder erweckte ich einige äußerst unerfreuliche Kindheitserinnerungen zu neuem Leben, oder ich musste ein Trio toter Kinder aus meinem Haus vertreiben.
Wie war ich nur in diese Situation geraten? Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was ich wohl in diesem Moment tun würde, wenn ich Wills Brief damals nicht bekommen hätte. Vielleicht würde ich in meinem Wohnzimmer in Bellingham sitzen, Tee trinken und dem Gebell der Seehunde lauschen. Oder durch meine Lieblingsbuchhandlung schlendern.
Ich ging weiter; meine Füße trugen mich wie von selbst in eine bestimmte Richtung. Anscheinend wollte ich irgendein mir noch unbekanntes Ziel erreichen, obwohl Nebel aufzog und winzige Tropfen mein Gesicht benetzten.
Zu meiner Überraschung fand ich mich kurz darauf vor den schmiedeeisernen Toren des Inselfriedhofs wieder. Natürlich. Ich suchte ja nach Beweisen dafür, dass Iris’ Geschichten der Wahrheit entsprachen, und was gab es dabei Hilfreicheres als Grabsteine, auf denen Namen und Daten zu finden waren?
Das alte Tor war rostig, überall blätterte die Farbe ab. Ich stieß es auf und betrat den Friedhof. Die Hunde weigerten sich, mich zu begleiten, und gaben ein warnendes Jaulen von sich. Trotzdem schritt ich langsam von Grab zu Grab und berührte so manchen Stein voll Ehrfurcht.
Und dann fand ich, was ich gesucht hatte. Wie angewurzelt blieb ich vor dem marmornen Stein mit den eingemeißelten Worten Madlyn Hill Crane, 1938 –2009. Geliebte Tochter, Frau und Mutter stehen. Nach ein paar Sekunden setzte ich mich auf die Einfassung und fragte mich, warum ich es nicht schon längst besucht hatte.
»Hallo, Mom«, sagte ich leise. Und im nächsten Moment lehnte ich den Kopf gegen den Grabstein und begann haltlos zu weinen; meine Tränen vermischten sich mit dem eisigen Regen, der inzwischen eingesetzt hatte. Wie lange ich so dagesessen habe, weiß ich nicht – es konnten Minuten gewesen sein, aber auch eine gute Stunde. Irgendwann riss mich das Bellen der Hunde in die Gegenwart zurück, und mir wurde klar, dass ich nicht länger auf dem nassen Boden sitzen bleiben konnte. In diesem Augenblick entdeckte ich einen zweiten Grabstein.
Halcyon Hill Crane, 1973 –1978. Geliebtes Kind.
Der Anblick meines eigenen Namens auf einem Grabstein verschlug mir den Atem. Bislang war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass es auch eine letzte Ruhestätte für mich geben musste. Aber natürlich – ich wurde ja offiziell für tot gehalten.
Neben meinem Grab lag das meines Vaters. Noah Thomas Crane, 1940 –1979. Geliebter Ehemann und Vater.
Daher rührte also sein später angenommener Vorname Thomas. Ich fragte mich, wie er
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