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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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niemand zu sehen. »Mrs. Sutton, ich kann mich an rein gar nichts erinnern, was damals passiert ist«, entgegnete ich rasch, wobei ich vergeblich versuchte, mich aus ihrem Griff zu lösen. »Ich habe gestern zum ersten Mal überhaupt vom Tod Ihrer Tochter gehört! Und genau genommen habe ich erst vor einigen Wochen zum ersten Mal von dieser Insel und meinen Kindheitsjahren hier erfahren. Ich habe mein ganzes Leben lang geglaubt, meine Mutter wäre in Seattle gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Mehr weiß ich wirklich nicht.« All das stieß ich in einem Atemzug hervor, in der Hoffnung, sie würde begreifen, dass nicht ich für ihren Verlust verantwortlich war.
    »Das ist mir doch egal!«, schleuderte sie mir entgegen. Ihre Stimme wurde schrill. »Ich weiß nur, dass meine Tochter nie in die Tanzstunde gegangen ist! Sie hatte nie einen Freund! Sie besuchte niemals einen Abschlussball in der Schule! Sie hat sich nie verliebt und nie geheiratet! Sie hatte nie Kinder! Und die ganze Zeit über waren Sie am Leben und wurden von dem Mann verhätschelt und verwöhnt, der meine Julie getötet hat!« Sie verstärkte den Griff um meinen Arm, und ein wildes Funkeln trat in ihre Augen.
    Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Die Frau schäumte vor Wut, niemand konnte sagen, wozu sie in diesem Zustand fähig war. Endlich gelang es mir, mich mit einem Ruck von ihr loszureißen. Ich ließ meinen Einkaufswagen im Stich und rannte aus dem kleinen Supermarkt, hörte aber noch, wie sie mir hinterherkreischte: »Wie kannst du es bloß wagen, hierher zurückzukommen? Wie nur?!«
    »Danke, dass Sie gewartet haben«, keuchte ich, als ich, nach dieser Begegnung am ganzen Leib zitternd, in die Kutsche zurückkletterte.
    »Gern geschehen«, nickte Henry, schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd an. Er fragte nicht, wo meine Einkäufe waren, und stellte Gott sei Dank während der gesamten Fahrt auch sonst keine Fragen. Als wir vor dem Haus meiner Mutter hielten, lud er mein Gepäck ab und trug es zur Haustür.
    »Sie war ein guter Mensch, unsere Madlyn. Ihr Vater und ich waren befreundet. Er war der hiesige Tierarzt, wussten Sie das?«
    Ich lächelte zögernd in Henrys mitfühlendes Gesicht. »Nein. Ich fürchte, ich weiß überhaupt nicht viel über meine Familie.«
    »Ich habe da so ein Gefühl, dass sich das bald ändern wird«, meinte Henry. »Es grenzt an ein Wunder, dass Sie wieder hier sind. Madlyn hat jeden Tag ihres Lebens um Sie getrauert. Es ist eine Schande, dass sie nicht mehr miterleben konnte, was für eine bezaubernde Frau Sie geworden sind.«
    Bei diesen Worten stiegen mir die Tränen in die Augen, und ich musste verlegen zwinkernd den Kopf abwenden. Endlich schien sich mal jemand über meine Rückkehr zu freuen! »Danke«, murmelte ich leise, während ich nach den Schlüsseln suchte.
    »Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich einfach an.« Henry tätschelte meinen Arm. »Ich wohne ganz in der Nähe.«
    »Dieses Angebot werden Sie noch bereuen!«, neckte ich ihn.
    »Ganz bestimmt nicht.«
    Ich winkte ihm von der Veranda aus nach und ging dann, meine Taschen vor mir herschiebend, hinein. Zum Teufel mit den Suttons – ich war zu Hause.

11
    Die Hunde begrüßten mich überschwänglich. Sie wedelten eifrig mit den Schwänzen, legten die Ohren an und sprangen an mir hoch, aber ihre Begeisterung trug wenig dazu bei, das Unbehagen zu lindern, das mich beschlich, als ich die breite Treppe meines Elternhauses betrachtete und mich fragte, wie ich es fertigbringen sollte, eine Stufe nach der anderen zu erklimmen und in das Unbekannte vorzudringen, das mich dort oben erwartete.
    Jetzt verwünschte ich mich dafür, dass ich mich nicht bereits am Abend zuvor in den ersten und zweiten Stock gewagt hatte. Warum hatte ich die Gelegenheit nicht genutzt, gemeinsam mit Will das ganze Haus zu erforschen?
    Mich überkam das unbestimmte Gefühl, hier nichts verloren zu haben; ich kam mir vor wie ein Eindringling, der Gefahr lief, jeden Moment von einem zornigen Hauseigentümer ertappt und davongejagt zu werden. Das ist jetzt mein Haus, mahnte ich mich immer wieder. Meine Mutter hat ausdrücklich bestimmt, dass ich es bekommen soll, sie hatte sich gewünscht, dass ich hier wohne.
    Am Fuß der Treppe blieb ich noch eine Weile stehen und betrachtete das glänzende Holz und den braunen Läufer, der in der Mitte verlief. Schließlich fasste ich mir ein Herz und stieg entschlossen die Stufen empor.
    Oben angekommen fand ich mich in einem

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