Insel der Schatten
jagte mir einen Schauer über den Rücken; mir war, als versuche sie, die Kälte, die sie ausstrahlte, in meinen Körper fließen zu lassen. Sie roch nach verwelkten Rosen und Staub. Nach einem Moment machte ich mich vielleicht eine Spur zu nachdrücklich von ihr los, was zu bewirken schien, dass Iris wieder in das Hier und Jetzt zurückkehrte. Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit ihren jetzt wieder glasklaren blauen Augen an.
»Ja, ich bin es wirklich, ich bin Hallie, und zwar quicklebendig! Ich habe mit dem Anwalt meiner Mutter gesprochen, der ihr Testament verwaltet. Sie hat dieses Haus und alles, was es enthält, mir vermacht – ihrer Tochter. Also würde ich auch gerne diejenige sein, die ihre Sachen durchsieht.«
»Selbstverständlich.« Iris nickte auf jene ehrerbietige Art, die die Hausangestellten reicher Leute in Filmen immer an den Tag legen. Einen Moment lang standen wir uns gegenüber und musterten uns gegenseitig abschätzend. Ich war nicht sicher, was ich als Nächstes tun sollte.
»Und stimmt es, was allgemein so gemunkelt wird?«, erkundigte sich Iris schließlich.
»Wenn Sie damit meinen, dass mein Vater all diese Jahre am Leben war: ja. Ich bin in der Nähe von Seattle aufgewachsen, wo ich später als Redakteurin bei einer Lokalzeitung gearbeitet habe und mein Dad an der Highschool Mathematik unterrichtete. Er starb vor einigen Wochen.« Ich zögerte, dann fügte ich hinzu: »Bis vor kurzem hatte ich keine Ahnung, dass meine Mutter noch lebte. Mir hatte man erzählt, sie wäre bei einem Brand umgekommen, als ich ein kleines Kind war.«
Iris schnalzte mit der Zunge. »Und das haben Sie geglaubt?«
»Natürlich habe ich es geglaubt!« Was bildete die sich eigentlich ein? »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Iris …«
»Ihre Mutter war eine wundervolle Frau.« Die Augen der Haushälterin funkelten so zornig, als müsse sie mich von dieser Tatsache erst überzeugen. Sie nestelte an ihrer Schürze herum, und ich sah, dass sie verzweifelt versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Nun zog sie ein zusammengeknülltes Tempotaschentuch aus ihrem Ärmel und betupfte sich damit die Augen. Diese Geste ließ sie so zerbrechlich und verwundbar erscheinen, dass mein Ärger sofort abzuflauen begann.
»Haben Sie denn lange für sie gearbeitet?«, fragte ich.
»Ich war schon hier, bevor sie geboren wurde, und ich war bis zu dem Tag hier, an dem sie starb«, erwiderte Iris nicht ohne Stolz. »Ich habe mich ihr ganzes Leben lang um Mrs. Crane gekümmert, und um dieses Haus noch länger.«
Mir stockte der Atem. »Dann kannten Sie mich ja auch, als ich noch ein Kind war, nicht?«
Iris nickte. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich war hier, als Sie geboren wurden, und ich war hier, als ihre Mutter die Nachricht von Ihrem Tod und dem Ihres Vaters erhielt. Bei dem Gedenkgottesdienst saß ich neben ihr.«
Es schien ihr ein gewisses Vergnügen zu bereiten, mir diese Neuigkeiten zu überbringen. Ich empfand den überwältigenden Drang, aus dem Korridor zu flüchten.
»Wie wäre es, wenn wir nach unten gehen und Tee trinken? Dann können Sie mir alles ganz genau erzählen«, schlug ich vor und eilte auch schon zur Treppe hinüber.
»O nein, das geht nicht. Ich muss mich jetzt verabschieden.« Iris begann, mit gesetzten Schritten gleichfalls auf die Stufen zuzuschlurfen.
Ein Anflug von Schuldgefühl keimte in mir auf. Die alte Dame hatte anscheinend ihr ganzes Leben lang für meine Mutter gesorgt. Ganz offensichtlich trauerte sie um ihre Arbeitgeberin und vermisste ihren gewohnten Alltagstrott. Ich musterte sie verstohlen, wie sie in ihrem schäbigen schwarzen Kleid dastand und das Papiertaschentuch in der Hand hielt, und wünschte mir trotzdem nichts mehr, als dass diese unheimliche Hexe auf ihren Reisigbesen stieg, entschwand und mich allein mit diesem Haus und seinen Geheimnissen zurückließ. Seltam war allerdings, dass meine Mutter sie über so viele Jahre lang beschäftigt und sie eigenartigerweise dennoch nicht in ihrem Testament bedacht hatte. Ich fragte mich, ob Iris genug Geld zur Seite gelegt hatte, um auch weiterhin zurechtzukommen, oder ob ihr nach dem Tod meiner Mutter nur noch das Allernotwendigste zum Leben blieb.
Wir erreichten den Fuß der Treppe, wo mein Gepäck in einer Ecke stand. Iris warf den Taschen einen vielsagenden Blick zu. »Wollen Sie hier auf der Insel bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete ich. »Doch erst einmal, ja. Ein paar Wochen
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