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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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langen Korridor mit zahlreichen Türen wieder, die alle geschlossen waren.
    Vorsichtig öffnete ich die erste Tür und spähte dann, mutiger geworden, in jeden einzelnen Raum. Es handelte sich zumeist um Gästezimmer. Am Ende des Flurs lag ein Gästebad. Auch das erste Stockwerk des Hauses wirkte so warm und anheimelnd wie das Erdgeschoss: Handgearbeitete Quilts bedeckten die Betten, Fotos (vermutlich von Madlyn aufgenommen) hingen an den Wänden. Warum hatte es mir so widerstrebt, hier hinaufzugehen?
    Insgeheim hatte ich gehofft, meine Erinnerungen würden zurückkehren, wenn ich das Haus erkundete; der Anblick der Räume, die ich einst so gut gekannt hatte, würde mir auf irgendeine Weise meine vergessene Kindheit zurückbringen. Zumindest war ich überzeugt gewesen, mein früheres Zimmer wiederzuerkennen, aber rein gar nichts hier oben erschien mir vertraut. Ich sah alles mit den Augen einer Fremden.
    Zwei Zimmer galt es noch zu besichtigen. Ich öffnete die Tür des einen und zuckte erschrocken zusammen, als ich eine mir unbekannte Frau neben dem Bett stehen sah. Im nächsten Moment schlug ich mit einem lauten Aufschrei die Tür wieder zu.
    In Filmen kreischen Frauen ständig wie am Spieß, wenn ihnen etwas Angst einjagt, aber ich hatte eigentlich immer gemeint, mich in solchen Situationen beherrschen zu können. Ich hatte mich geirrt. Beim Anblick der fremden Frau stieß ich sofort besagten gellenden Schrei aus, knallte die Tür zu und torkelte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Korridorwand prallte. Dort blieb ich zitternd und nach Atem ringend stehen.
    Ich war natürlich davon ausgegangen, dass sich außer mir und den Hunden niemand im Haus befand, daher traf mich die Anwesenheit eines anderen Menschen völlig unverhofft. Dazu kam die auffällige Erscheinung der Fremden, auf die ich einen kurzen Blick hatte erhaschen können: Sie trug ein langes, schwarzes Kleid und so genannte ›vernünftige‹ Schuhe – also eher praktisch als schick. Ihr strähniges graues Haar war zu einem Knoten zusammengefasst, und ihre Haut schimmerte so weiß wie Alabaster.
    Nun öffnete sich die Schlafzimmertür, und sie schaute heraus und musterte mich mit undurchdringlicher Miene. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
    »Ich …ich …«, stammelte ich überrumpelt.
    »Ich bin Iris Malone, die Haushälterin!«, verkündete sie. »Ich bin hier, um ihre Sachen durchzusehen.«
    Aha. Allmählich konnte ich wieder klar denken.
    »Und Sie sind …?«, wollte sie jetzt wissen.
    Diese Frau strahlte einen Hochmut aus, als würde sie und nicht ich hierhergehören. Doch oberflächlich betrachtet hatte sie damit vermutlich sogar recht. Sie war die Haushälterin, und das wahrscheinlich schon seit vielen Jahren, also fühlte sie sich hier verantwortlich. Und sie kannte mich ja nicht. Ich hätte alles Mögliche sein können – ein verrückter Fan von Madlyn, eine Reporterin, eine Einbrecherin oder noch Schlimmeres.
    Trotzdem: Die ›Sachen‹, die sie durchsehen wollte, hatten meiner Mutter gehört und waren jetzt mein Eigentum. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte ich mich von einem verschüchterten Mäuschen in eine verärgerte Erbin: »Sie scheinen die Neuigkeit vermutlich noch nicht gehört zu haben.«
    Als Antwort betrachtete sie mich mit zusammengekniffenen Augen nur argwöhnisch.
    »Sie brauchen Mrs. Cranes Sachen jedenfalls nicht durchzusehen«, fuhr ich kühl fort. »Ich bin nämlich Halcyon Crane, Madlyns Tochter. Und ich werde mich selbst um ihren Nachlass kümmern.«
    Als daraufhin jegliche Farbe aus Iris’ Gesicht wich, sah ich zum ersten Mal, dass ein Mensch tatsächlich leichenblass werden konnte. Sie kam auf mich zu und hob eine klauenartige Hand. Einen Moment lang fürchtete ich, sie wolle mich schlagen, mir die Augen auskratzen oder Gott weiß was tun. Doch stattdessen legte sie mir die Hand auf die Wange und sagte tonlos: »Also ist es tatsächlich wahr.«
    Ich nickte. Sowohl zur Bestätigung als auch, um mein Gesicht aus ihren Krallenfingern zu befreien. »Ich war genauso überrascht wie Sie, als ich es erfuhr.«
    Ich konnte nicht sagen, ob sie meine Worte überhaupt gehört hatte. Sie starrte mich nur stumm an und strich mir dann über das Haar. Über ihre Augen hatte sich ein Schleier gelegt, als befände sie sich nicht hier, sondern ganz woanders. »Sie sind es wirklich«, murmelte sie endlich. »Wir hielten Sie alle für tot.« Dann schlang sie die Arme um mich und drückte mich an sich.
    Ihre Umarmung

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