Insel der Schatten
geschlossenen Augen tauchte auf einmal das lächelnde Gesicht meiner Mutter auf. Ich hab dich lieb, mein Schatz. Endlich eine Erinnerung an sie! Und diese überwältigte mich so, dass ich auf den Boden des Schrankes niedersank. In diesem Moment vermisste ich sie mehr denn je.
»Warum konntest du denn nicht so lange am Leben bleiben, bis ich hierher kam?«, fragte ich laut.
Eine glockenklare Antwort erklang.
Warum bist du nicht früher gekommen?
Ich blieb noch eine Weile im Schrank meiner Mutter sitzen, dann war es Zeit, mich aufzuraffen und auszupacken. Vorsichtig schob ich die Anziehsachen meiner Mutter zur Seite, um Platz für meine Garderobe zu schaffen. Als ich meine Shirts Seite an Seite mit den ihren hängen sah, überkam mich ein überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit – da waren wir, meine Mutter und ich, in unseren Kleidern wieder vereint. Ihr Haus war jetzt mein Haus.
Als ich kurz darauf auf die Uhr blickte, zuckte ich überrascht zusammen. Schon fast fünf Uhr! Will würde in weniger als einer Stunde vor der Tür stehen. Da ich mich noch duschen und umziehen wollte, begab ich mich auf die Suche nach Handtüchern und wurde rasch fündig. Im Bad gab es einen Wäscheschrank, in dem ich alles fand, was ich brauchte: flauschige weiße Handtücher, Shampoo, Duschgel und noch ein paar andere Kosmetikartikel. Ich musste lächeln. Meine Mutter und ich hatten absolut denselben Geschmack.
Langsam zog ich mich aus, legte meine Kette und meine Ohrringe auf den Toilettentisch und trat in die Duschkabine. Das dampfende Wasser erfüllte mich mit neuer Energie, und nach dem Duschen schlüpfte ich beschwingt in einen weißen Bademantel, der an der Tür hing. Ihre Sachen zu tragen brachte mich meiner Mutter noch näher. Vielleicht fand ich unter ihren Kleidern ja etwas, das ich zu meiner Verabredung mit Will anziehen konnte?
Ich hatte keine Ahnung, in was für ein Restaurant wir gehen würden, aber eines wusste ich: Wir würden in seiner offenen Kutsche dorthin fahren. Kurze Röcke und hochhackige Pumps schieden somit aus. Und ich wollte nicht, dass Will einen falschen Eindruck bekam – dies war kein Date, sondern nur ein Abendessen von zwei Freunden. Wie kleidete man sich da entsprechend? Ich entdeckte ein langes, schwarzes Baumwollstretchkleid mit rundem Ausschnitt, leger genug, um nicht auszusehen, als wolle ich in ein Luxusrestaurant ausgeführt werden, falls Will in Jeans erschien, aber dennoch elegant, falls er im Anzug kam. Außerdem hatte ich ein paar flache schwarze Schuhe im Koffer, die perfekt zu diesem Outfit passten.
Ich zog das Kleid an und betrachtete mich dann im Spiegel. Es betont die richtigen Stellen und kaschiert die Problemzonen, dachte ich zufrieden. Während ich mich noch kritisch musterte, schob sich plötzlich ein zweites Bild meiner Selbst hinter mich. Es war, als würde der Spiegel auf einmal vibrieren und Wellen schlagen, als habe jemand einen Stein auf die glatte Wasseroberfläche eines Sees geworfen. Ich sah eine zweite Ausgabe von Halcyon Crane, die dasselbe Kleid trug und gerade dasselbe Haar bürstete. Ich, aber doch nicht ich. Sah ich etwa ein Bild meiner Mutter? In ihrem eigenen Spiegel?
Ich wagte nicht, mich zu rühren oder irgendetwas zu tun, was die Illusion hätte verscheuchen können. Regungslos sah ich zu, wie Madlyn die Arme hob und um meine Schultern legte. Dann spürte ich, wie sie mir liebevoll über das Haar strich. Nachdem ich mich ein Leben lang danach gesehnt hatte, geschah es endlich: Meine Mutter umarmte mich. In der Hoffnung, das zu fühlen, was das Bild im Spiegel wiedergab, schloss ich die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, war sie fort.
Ich drehte mich um, nun nicht mehr ganz so sicher, ob sie überhaupt da gewesen war. Wie konnte das auch möglich sein? Nein, die Erscheinung musste ein Produkt meiner Fantasie gewesen sein, ausgelöst dadurch, dass ich im Kleid meiner Mutter in ihrem Haus und vor ihrem Spiegel stand.
Ich schüttelte den Kopf, um mich in die Realität zurückzuholen. Will würde gleich hier sein, ich musste mich fertig machen. Mir fehlte nur noch mein Schmuck. Die Kette lag auf dem Toilettentisch, dort, wo ich sie hingelegt hatte, aber als ich die Ohrringe anlegen wollte, waren diese verschwunden.
Merkwürdig. Ich blickte zu Boden – vielleicht waren sie heruntergefallen? – fand sie dort aber nicht. Hatte ich sie geistesabwesend in meine Handtasche gesteckt? Aber da waren sie auch nicht. Ich fragte mich, ob sie auf
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