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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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Nimmerwiedersehen im Waschbecken verschwunden waren, aber nein, der Abfluss war verstöpselt. Das erinnerte mich allerdings daran, dass ich mir noch die Zähne putzen musste. Ich suchte in einer der Reisetaschen nach meiner Zahnbürste, ging ins Bad zurück und hob die Bürste zum Mund. Im selben Moment sah ich die Ohrringe – auf dem Toilettentisch, genau da, wo sie sein sollten.
    Was war da eben geschehen? Einen Augenblick zuvor hatten sie noch nicht dort gelegen. Oder doch? Mir blieb keine Zeit, um über dieses Rätsel länger nachzugrübeln, weil die Türklingel und das Bellen der Hunde mir nun verrieten, dass Will da war. Ich legte die Ohrringe an, griff nach meiner Handtasche und ging die Treppe hinunter.
    »Wow!«, entfuhr es Will, als ich die Tür öffnete. »Du siehst fantastisch aus!«
    Dasselbe hätte ich von ihm sagen können: Er trug gutsitzende Jeans (jetzt war ich froh, dass ich mich nicht übertrieben aufgeputzt hatte), ein gestreiftes Hemd und eine weiche braune Lederjacke. Beim Anblick des Straußes Schwarzäugiger Susannen in seiner Hand machte mein Herz einen kleinen Sprung.
    Um meine Verlegenheit zu überspielen, neckte ich ihn grinsend: »Hast du dafür die Töpfe auf meiner Veranda geplündert?«
    »Nein, ich habe kurz beim Friedhof angehalten und sie von einem Grab geklaut.«
    Ich konnte nicht anders, ich begann vor Lachen zu prusten. »Na, dann herzlichen Dank! Das sind nämlich zufällig meine Lieblingsblumen.« Ich vergrub die Nase in den dunkelgelben Blüten.
    Kurz darauf rollte Wills offener Wagen den Hügel hinab. Wir bogen von der Hauptstraße ab und fuhren in den Wald hinein, weil das Restaurant auf der anderen Seite der Insel lag.
    »Wir kommen gleich zwischen einer Reihe uralter Bäume hindurch«, erklärte Will, während wir gemächlich dahinzuckelten. »Die Einheimischen, die diese Insel zuerst besiedelt haben, glaubten, diese Bäume wären verwunschen und könnten jederzeit zum Leben erwachen und ihre Äste ausstrecken … so …« Er tat, als wolle er mir einen Arm um den Hals legen und grinste.
    Obgleich der Himmel mit Sternen übersät war, umgab uns hier tintenschwarze Dunkelheit. Nebelschwaden waberten wie Geister zwischen den Bäumen hervor. Ich blickte nervös von einer Seite der Karre zur anderen, denn es kam mir plötzlich so vor, als würde dort im Wald ein Augenpaar lauern und uns beobachten. Vielleicht saß es sogar in den Bäumen selbst. An dem Aberglauben der ersten Siedler dieser Insel konnte durchaus etwas dran sein.
    »Nachts ist es hier immer ein bisschen unheimlich, das gebe ich zu«, schmunzelte Will, den meine Nervosität sichtlich amüsierte. »Vor allem, weil wir gleich an dem ältesten Friedhof von Grand Manitou vorbeikommen.«
    »Ach ja?« Ich unterdrückte den Drang, ihn zu kneifen.
    »Ich meine es ernst.« Grinsend deutete er nach links.
    Dort sah ich ein altes schmiedeeisernes Gitter, dahinter verwitterte Grabsteine und tote Blätter, die wie ruhelose Seelen umherwirbelten. »Mir gefallen Friedhöfe, besonders wenn sie alt sind«, plapperte ich ohne nachzudenken drauflos, um meine Furcht zu vertreiben, die nahezu greifbar in der Luft hing. »Sie spiegeln meistens die Geschichte eines Ortes und seiner Bewohner wider.«
    »Das trifft auf diesen hier in besonderem Maße zu, Hallie. Man findet dort über dreihundert Jahre alte Grabsteine. Es ist fast wie ein Blick in ein Geschichtsbuch.«
    Ich hoffte nur, dass er nicht die Absicht hatte, hier und jetzt eine Friedhofsführung zu veranstalten. »Wir können ihn ja irgendwann einmal tagsüber beabsichtigen«, beugte ich etwaigen derartigen Absichten vor. »Mittags zum Beispiel. Im hellen Sonnenlicht.«
    Er ging gar nicht auf meinen Vorschlag ein. »Ich habe erst vor kurzem auf diesem Friedhof etwas erlebt, das ich so schnell nicht vergessen werde.«
    »Willst du mir jetzt eine Gruselgeschichte erzählen? Um mir noch mehr Angst einzujagen?«
    Will lachte. »Es ist keine Gruselgeschichte«, sagte er, dachte dann einen Moment nach und änderte seine Meinung. »Na ja, irgendwie doch … Möchtest du sie trotzdem hören?«
    »Wenn’s denn sein muss.«
    »Ich bin vor einigen Tagen mit dem Fahrrad den Pfad entlanggefahren, der den Hügel hier hinaufführt, und da bekam ich Lust, mir die alten Grabsteine auf dem Friedhof einmal genauer anzusehen«, begann er. »Seit meiner Kindheit war ich nicht mehr dort gewesen. Ich sah mich also um und stieß auf einen alten weißen, bröckeligen Stein. Er sah uralt aus, und

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