Insel der Schatten
es beispielsweise, ein gutes Essen für Simeon zu kochen und für eine behagliche Atmosphäre zu sorgen.
Und so stand sie nun am Herd und bereitete eine Fleischpastete zu, eines der Leibgerichte ihres Mannes. Während sie Zwiebeln, Kartoffeln und Karotten kleinschnitt, ahnte sie nicht, dass ihr Leben gleich eine furchtbare Wendung nehmen würde. Doch so ist es ja immer, nicht wahr? Das Verhängnis ereilt einen ohne Vorwarnung innerhalb eines einzigen Momentes, während man gerade mit ganz alltäglichen Dingen beschäftigt ist.«
Ich nickte, denn ich musste an den Tag denken, an dem ich Madlyns Brief bekommen hatte.
»In der warmen Küche bemerkte Hannah nicht, dass die Temperatur draußen drastisch gesunken war. Wäre ihr das aufgefallen, hätte sie ihre Töchter wahrscheinlich ins Haus gerufen. Dann hätten sie sich alle vier vor dem Kaminfeuer zusammengekuschelt, sicher und geborgen in der Festung des Hauses, das Simeon für sie gebaut hatte, und abgewartet, bis der Sturm wieder abgeflaut wäre. Hannah hätte sicherlich auch anders gehandelt, wenn sie gewusst hätte, dass dieser Sturm schon seit vier Tagen mal hier, mal da über den Seen tobte, und bereits zahlreiche Opfer gefordert hatte. Aber sie hatte von diesem Unwetter nichts gehört, und so kam es, dass die Drillinge immer noch draußen auf der Klippe Verstecken spielten, während ihre nichts ahnende Mutter seelenruhig am Herd stand.
Während sich zwei der Mädchen versteckten und dem dritten Hinweise zuriefen, wo sie zu finden waren, toste der Sturm über das Wasser und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Meterhohe Schneewehen verschlangen ganze Städte auf dem Festland, hurrikanähnliche Windböen zerschmetterten Fenster und rissen das Kopfsteinpflaster der Straßen auf. Die Leute, die das vermeintliche Glück hatten, sich in ihren Häusern zu befinden, wurden darin eingeschlossen. Diejenigen, die auf dem Heimweg von dem Unwetter überrascht wurden, sah man nie wieder.
Schnee und Wind waren aber nicht die einzigen Plagen, die die Menschen jetzt heimsuchten. Es war Anfang November, und keiner der Seen war bislang zugefroren, und daher peitschten überdies noch riesige eisige Wellen, höher noch als zweistöckige Gebäude, über die Küstenlinie hinweg und zerstörten Docks, Kais und Deiche.«
Ich zog die Beine unter mich. »Ich kann kaum glauben, dass ein Sturm so heftig wüten kann.«
Iris schüttelte den Kopf. »Es war der entfesselte Zorn der Natur, Kind, nicht mehr und nicht weniger! Stellen Sie sich vor, wie es erst draußen auf dem Wasser ausgesehen haben muss: Die Wellen schlugen über den Schiffen zusammen und ließen sie zu Eis erstarren. Dutzende von Frachtern gingen an einem einzigen Tag unter, von all den kleinen Fischer- und Segelbooten ganz zu schweigen. Hunderte und Aberhunderte Menschen kamen an diesem Tag um, darunter auch die drei kleinen Mädchen, die noch immer im Freien spielten, als der mörderische Sturm schließlich Grand Manitou erreichte.«
Ich hatte während der ganzen Geschichte immer wieder den Atem angehalten. Jetzt war mir so kalt, als wäre ich selbst dabei gewesen.
»Aber die Hill-Drillinge sind nicht einfach nur erfroren, obwohl es letztendlich natürlich darauf hinausgelaufen ist. Ehe die Mädchen wussten, wie ihnen geschah, war das Unwetter auch schon da. Es wurde eisig kalt, und dann kam der Wind. Wären sie in diesem Moment nach Hause gelaufen, hätten sie wahrscheinlich überlebt. Aber sie taten es nicht.
Persephone entdeckte ihn zuerst: Auf dem See war ein Dampfer außer Kontrolle geraten und prallte nun wie ein Spielzeugboot gegen die Felsen kurz vor dem Ufer. Die Mädchen wurden von nacktem Entsetzen gepackt: Ihr Vater sollte doch an diesem Nachmittag zurückkommen – an Bord eines Dampfers!
Trotz Kälte und Wind krabbelten die drei Schwestern einen felsigen Pfad an der Seite der Klippe zum Ufer hinunter. In ihrer kindlichen Naivität glauben sie, irgendetwas tun zu können, um ihrem Vater zu helfen. Sie schrien immer wieder: ›Dad! Dad!‹, aber ihre Worte wurden vom Wind verschluckt und davongetragen. Die Drillinge konnten nur hilflos zusehen, wie eine riesige Welle nach der anderen über den Dampfer hinwegrollte und ihn – und somit auch alle Passagiere – mit einer dicken Eisschicht überzog.
Doch so schlimm es ihrem Vater und den anderen an Bord des Schiffes auch ergehen mochte, die Mädchen mussten bald erkennen, dass sie selbst sich in weit größerer Gefahr befanden. Sie standen
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