Insel der Schatten
jetzt am Ufer, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt, als der Schnee über sie hereinbrach.
Schon ein gewöhnlicher Sturm ist auf den Großen Seen schrecklich, aber dieses Unwetter lässt sich kaum mit Worten beschreiben. Der Wind peitschte den Schnee seitlich mit solcher Wucht vor sich her, dass die Mädchen die Augen nicht mehr offen zu halten vermochten. Die Welt bestand nur noch aus gleißendem Weiß – selbst wenn sie ihre blassblauen Augen hätten aufschlagen können, hätten sie nicht weiter als bis zu ihren Nasenspitzen sehen können.
Frierend, verängstigt und sich verzweifelt aneinander festklammernd stolperten sie auf die Klippe zu, aber fanden den Pfad, der sie zu ihrem Haus zurückführte, nicht mehr. Solange sie sich im Griff dieses grausamen weißen Ungeheuers befanden, konnten sie nicht mehr die Hand vor Augen erkennen. Also kauerten sie sich am Fuß der Felsen zusammen und hofften, dass ihnen bald jemand zu Hilfe kommen würde.
Aber es kam niemand. Und es dauerte nicht lange, bis die eisigen Wogen auch die Küste erreichten. Eine Welle nach der anderen traf die hilflosen Schwestern, und innerhalb weniger Minuten waren die einander in den Armen haltenden Drillinge in einem Eisblock eingefroren.
Inzwischen suchte oben im Haus eine Mutter voller Panik nach ihren Töchtern. Hannah hatte zufällig aus dem Fenster geblickt und voller Entsetzen begriffen, was sich da draußen abspielte. Sie griff nach ihrem Tuch, rannte in den Sturm hinaus und schrie immer wieder die Namen ihrer Töchter: ›Persephone! Penelope! Patience!‹
Ihre Panik wuchs von Minute zu Minute. Nach kurzer Zeit hatte auch sie völlig die Orientierung verloren. Wo ging es zum Haus zurück? Wo waren die Mädchen? Sie konnte kaum drei Zentimeter weit sehen, und der Schnee stach wie Nadeln in ihre Haut, wo er winzige blutende Wunden hinterließ. Sie hatte Mühe, sich in dem tosenden Wind aufrecht zu halten, also krümmte sie sich zusammen und kämpfte sich weiter. Tränen brannten auf ihrem Gesicht und verzerrten es zu einer eisigen Maske der Furcht.«
Auch mir stiegen unwillkürlich die Tränen in die Augen, und als ich nach meiner Serviette griff, um sie abzutupfen, reichte mir Iris ein spitzengesäumtes Stofftaschentuch, das wie sie nach welken Rosen und Staub roch.
»Schon gut, Kind«, sagte sie. Ihre Züge waren so weich geworden, wie ich es bei ihr nie zuvor gesehen hatte. »Schon gut.«
Sie wartete, bis ich mir die Nase geschnäuzt und die Augen getrocknet hatte, dann fuhr sie mit ihrer Geschichte fort: »Hannah Hill stolperte direkt auf die Klippe zu. Sie wäre sicher in den Tod gestürzt, wenn sie nicht plötzlich im Wind einen Chor sanfter Stimmen gehört hätte. Sie hielt den Atem an und lauschte.
›Kehre um!‹, schienen die Stimmen ihr zuzurufen. ›Hier ist es kalt! So kalt!‹ Und dann erklang ein glockenhelles Gelächter.
Waren das ihre Kinder, die wieder einmal Verstecken spielten? Hannah machte kehrt und taumelte blindlings in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. ›Mädchen, wo steckt ihr?‹
›Wärmer, Mommy! Jetzt wird es wärmer!‹ Und so torkelte Hannah weiter, setzte, den Stimmen folgend, mühsam einen Fuß vor den anderen – ›Jetzt wird es heiß! Ganz heiß!‹- bis sie mit einem Zeh gegen eine steinerne Stufe stieß. Zu ihrer Verwunderung fand sie sich vor ihrer eigenen Hintertür wieder. Sie hatte das Haus erst sehen können, als sie direkt davor stand.
Sie beschloss, sich einen Moment auszuruhen, bevor sie die Suche nach ihren Töchtern fortsetzte, ging ins Haus, schloss die Tür hinter sich und streckte sich vor dem Kaminfeuer auf dem Boden aus. Die rasiermesserscharfen Kratzer an ihren Armen und auf ihrem Gesicht brannten fürchterlich. Sie würde nur kurz die Augen schließen, nahm sie sich vor, und dann wieder hinausgehen. Nur ein paar Minuten verschnaufen, denn sie war zu Tode erschöpft …«
»O nein«, flüsterte ich. »Sagen Sie bitte nicht, dass …«
Doch Iris nickte. »Leider ja. Diese Geschichte ist kein kunterbuntes Märchen, sie hat sich wirklich so zugetragen. Die arme Hannah wachte erst am nächsten Tag wieder auf, als der Sturm weitergezogen war. Alle Bewohner von Grand Manitou, auch Hannah Hill, wussten, dass es nun an der Zeit war, nach den Toten zu suchen und für die Lebenden das zu tun, was noch in ihrer Macht stand.
Als die Insulaner ihre Häuser verließen, traten sie in eine funkelnde, mit Eis überzogene Welt hinaus. Helles Sonnenlicht wurde von den
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