Insel der Schatten
du auch nicht.« Er schob den Umschlag zu mir hinüber.
»Verstehe.« Ich drückte seine Hand, öffnete ihn und zog die Akte hervor. Es war so weit. Ich schlug den Schnellhefter auf.
Als Erstes fand ich einen Artikel über meinen Tod. Auf dem vergilbten Belegbogen einer Lokalzeitung prangte ein Foto von meinem Vater und mir, darunter folgende Schlagzeile:
Noah Crane und Tochter Halcyon vermutlich
bei Kajakunfall ums Leben gekommen
Der Mathematiklehrer von Grand Manitou Island (37) und seine Tochter Halcyon (5) verschwanden Freitagmorgen während einer Kajaktour und sind vermutlich nicht mehr am Leben.
Crane verließ am Freitag mit seiner Tochter schon sehr früh sein Haus und begab sich mit ihr auf das Wasser. Als beide am späten Nachmittag noch nicht zurückgekehrt waren, begann sich Noah Cranes Frau Madlyn, die Mutter des Mädchens, Sorgen zu machen und alarmierte die örtlichen Behörden.
Die Polizei stellte unverzüglich einen aus gut drei Dutzend Insulanern bestehenden Suchtrupp zusammen, der mit Schnellbooten, Kajaks und Kanus die Küstenlinie nach den Vermissten absuchte. Auch die Fährgesellschaft von Grand Manitou beteiligte sich an der Suchaktion.
Officer Chip Norton berichtete, dass die auf der Insel wohnhafte Mira Finch in der Nähe des sogenannten Rings, einer Felsformation auf der Nordseite der Insel, die seit langem ein beliebtes Ausflugsziel für Kajakfahrer und Ruderer ist, ein umgekipptes Boot entdeckte. Von Crane und seiner Tochter fehlte allerdings jede Spur.
Nachdem die Suche entlang der Küstenlinie zu keinem Ergebnis führte, wandte sich der Rettungstrupp an die Küstenwache und bat darum, Schiffe zwischen Insel und Festland patrouillieren zu lassen. Doch als die Nacht hereinbrach, sank die Hoffnung schließlich, die Vermissten noch lebend aufzufinden.
»Wir glauben, Vater und Tochter können von der Strömung, die auf der Nordseite der Insel ziemlich stark ist, in die Fahrrinne eines größeren Schiffs getrieben worden sein«, so Norton. »Wir hatten lange gehofft, sie lebendig vorzufinden, aber inzwischen müssen wir davon ausgehen, dass sie entweder ertrunken oder an Unterkühlung gestorben sind. Daher müssen wir uns jetzt hauptsächlich darauf konzentrieren, ihre Leichen zu bergen.«
»Das ist ja unglaublich«, murmelte ich, nachdem einen Moment lang verblüfftes Schweigen geherrscht hatte. Der Artikel verriet mir nichts Neues – ich wusste inzwischen ja nur zu gut, dass mein Vater unseren Tod nur vorgetäuscht hatte. Aber die Fakten Schwarz auf Weiß vor mir zu sehen, ließ alles auf einmal unmissverständlich real erscheinen.
»Hat Mira dir gegenüber mal erwähnt, dass sie diejenige war, die diesen Kajak gefunden hat?«, wollte Will wissen.
»Nein.« Nachdenklich betrachtete ich ihren gedruckten Namen. »Sie hat mir überhaupt nichts von diesem Tag erzählt. Nicht die kleinste Kleinigkeit. Ich frage mich, warum?«
Will sah mich an und zuckte die Achseln. »Gute Frage.«
»Es muss ihr wohl ziemlich an die Nieren gegangen sein, das gekenterte Boot zu entdecken«, überlegte ich laut.
»Aber wäre es nicht trotzdem logisch gewesen, sofort darauf zu sprechen zu kommen, sobald ihr klar geworden war, wen sie da vor sich hat?« Er ließ nicht locker. »›Stellen Sie sich vor, Hallie, ich gehörte damals auch zu dem Suchtrupp. Ich war sogar diejenige, die den Kajak gefunden hat.‹ So was in der Art.«
»Der Schluss liegt nah«, stimmte ich zu, obwohl ich langsam gar nicht mehr wusste, was ich denken sollte.
»Der Anwalt in mir wittert hinter der Geschichte noch einiges mehr als das, was damals bekannt geworden ist«, begann er, machte dann aber einen Rückzieher. »Aber Anwälte meinen wahrscheinlich immer, dass hinter allem noch mehr stecken muss. Vielleicht wollte Mira ja einfach nur die Vergangenheit nicht abermals aufwühlen.«
Ich schob den Artikel zur Seite und befasste mich mit dem darunter liegenden Blatt. Es war eine längere Abhandlung über meinen Vater, den Mord an Julie Sutton, unseren Tod und die Frage nach einem möglichen Zusammenhang dieser drei Punkte. »Ich bin nicht sicher, ob ich das wirklich lesen möchte«, sagte ich zu Will.
»Du wolltest doch alles wissen«, erwiderte er sanft. »Und das hier ist eben leider ein Teil davon. Vergiss nicht, dass das alles Schnee von gestern ist, Hallie. Nichts davon kann dich heute noch verletzen.«
Er hatte natürlich recht, daher schluckte ich noch einmal und begann dann zu lesen.
Tod von Noah Crane und Tochter
Weitere Kostenlose Bücher