Insel der Schatten
Stunde später fiel mir auf, dass ihre Geschichte genau dort begonnen hatte, wo meine Vision im Wintergarten abgebrochen war.
24
Ich stieg auf das Fahrrad und fuhr in die kleine Stadt hinunter. Sowie der Zauber gebrochen war, den Iris mit ihren Geschichten um mich gesponnen hatte, war mir nach menschlicher Gesellschaft zumute. Vor Jonahs Café machte ich Halt und lehnte das Rad gegen die Mauer.
»Hallo!« Jonah lächelte mich an, als ich das ansonsten leere Lokal betrat. »Schön, dass du vorbeischaust. Wie wär’s mit einem Caffè Latte?«
»Das wäre jetzt genau das Richtige.« Voller Vorfreude auf einen gemütlichen Schwatz mit dem netten Cafébesitzer kletterte ich auf einen Barhocker.
Doch mein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen, denn genau in diesem Moment drängte sich eine Gruppe Einheimischer zu uns hinein. Sie bestellten ihre Getränke und verkündeten dann lautstark, dass heute wieder die wöchentliche Versammlung ihres Lesezirkels stattfände. Ich erkannte sogar ein paar der Gesichter wieder; ich hatte sie an meinem ersten Tag auf der Insel bereits bei Jonah angetroffen. Ihm gegenüber verhielten sie sich natürlich jovial und freundlich, aber mir ließen sie denselben eisigen Empfang zukommen wie neulich schon. Kalte Blicke trafen mich, und leises Getuschel erhob sich, als die Gruppe Platz nahm und die mitgebrachten Neuerscheinungen auspackte.
Ich weiß nicht, welcher Teufel mich an diesem Tag ritt – vermutlich kam ich zu dem Schluss, dass jemand, der mit drei bösartigen Geistern unter einem Dach lebte, vor dieser Bande nichts zu fürchten hatte. Jedenfalls trat ich einem Impuls folgend an ihren Tisch und sah jeden Einzelnen der Reihe nach an.
»Hallo«, grüßte ich, dann beugte ich mich vor und stützte die Hände auf die Tischplatte. »Falls es tatsächlich noch jemanden hier geben sollte, der noch nicht von mir gehört hat – ich bin Ihre neue Nachbarin und Freundin Halcyon Crane. Und ich habe auch gleich mal eine Frage an Sie: Gedenken Sie, mich irgendwann einmal normal zu behandeln, oder wollen Sie weiterhin jegliche Unterhaltung abbrechen, wenn ich einen Raum betrete, um mich dann mit feindseligen Blicken zu durchbohren und hinter meinem Rücken über mich zu tuscheln?«
Niemand reagierte.
Damit hatte ich gerechnet, also fuhr ich unbeirrt fort: »Langsam finde ich dieses Benehmen nämlich ziemlich lächerlich! Ich weiß noch nicht, wie lange ich auf Grand Manitou bleiben werde, aber es könnten durchaus ein paar Monate werden. Daher schlage ich vor, dass Sie sich einfach damit abfinden.« Mit diesen Worten wandte ich mich von den verdutzten Bücherfreunden ab und ging an die Theke zurück.
»Bravo«, lobte Jonah, als er mir meinen Kaffee reichte. Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ruf mich doch nach Ladenschluss bitte einmal an, Hallie. Es gibt da noch etwas, das ich dir sagen muss. Es liegt mir schon seit dem Abend in der Weinbar auf der Seele, aber ich wusste nicht, wie ich … es ist einfach ziemlich kompliziert.«
Ich nickte, trank aus und verließ dann das Café, ohne mir vorstellen zu können, worauf Jonah hinausgewollt haben konnte.
Nach nur ein paar Schritten traf ich zu meiner großen Freude Will auf der Straße.
»Hi.« Er küsste mich auf die Wange und drückte leicht meine Schulter. »Ich habe gerade ein paar Unterlagen bei der Polizei abgegeben. Möchtest du einmal sehen, was mir bei dieser Gelegenheit zugeflogen ist?«
Er hielt mir eine Plastiktüte hin. Ich spähte gerade lange genug hinein, um auf einem braunen Umschlag die Worte »Sutton, Julie, 1979« lesen zu können.
»Will …«, begann ich, doch er brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen.
»Ich muss jetzt weiter, aber ich komme später zu dir, und dann sehen wir uns die Akten gemeinsam an.« Er winkte mir zu und eilte dann die Straße hinunter auf seine Kanzlei zu.
Ich legte die Tüte in meinen Fahrradkorb und nahm keuchend den langen Weg hügelaufwärts in Angriff.
Den Rest des Nachmittags saß ich am Küchentisch, starrte den vor mir liegenden Umschlag an und grübelte von leiser, ziehender Furcht erfüllt darüber nach, was er wohl enthalten mochte. Als Will kurz vor dem Abendessen eintraf, wusste ich, dass es nun an der Zeit war, mich dem Unbekannten zu stellen.
Ehe er das Kuvert öffnete, drohte Will mir spielerisch mit dem Zeigefinger. »Ich sage nur so viel: Ich habe diese Akte, die jetzt auf so wundersame Weise auf deinen Küchentisch geraten ist, nie zuvor gesehen. Und
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