Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
voller Schlaglöcher.
Rasch ging sie durch den Wald. Falls jemand sie beobachtete – sollte er doch. Sollte er nur seine verdammten Bilder schießen, bis ihm die Finger schmerzten. Sie würde nicht weiter in Angst zu leben. Sie hoffte, er wäre da, ganz nah. Sie wollte ihn sehen. Jetzt. In diesem Moment.
Sie blieb stehen. »Ich bin stärker, als du denkst«, sagte sie laut und lauschte dem Echo ihrer wütenden Stimme. »Komm raus und überzeug dich selbst davon, du Dreckskerl.« Sie griff sich einen Stock und schlug damit in ihre Handfläche. »Du Schwein. Glaubst du, du kannst mich mit einem Haufen zweitklassiger Fotos in Angst und Schrecken versetzen?«
Sie schlug mit dem Stock gegen einen Baumstamm und genoß die Vibrationen, die ihren Körper dabei durchströmten. Ein Specht stob erschrocken auf und schoß davon.
»Deine Komposition ist Scheiße. Das Licht ist miserabel. Du hast keinen Schimmer vom Fotografieren. Jedes Kind macht bessere Bilder als du.«
Mit zusammengebissenen Zähnen wartete sie darauf, daß jemand auf den schmalen Weg trat. Sie wollte, daß er angriff. Er sollte bezahlen. Aber nichts passierte. Der Wind strich durch die Blätter, und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das harte Klacken der Palmwedel. Das Licht veränderte sich, und es wurde langsam dunkler.
»Jetzt führe ich schon Selbstgespräche«, murmelte sie. »Wenn das so weitergeht, bin ich mit dreißig verrückter als Urgroßoma Lida.« Sie schleuderte den Stock von sich, beobachtete, wie er in hohem Bogen im Gebüsch landete.
Aber sie sah weder die abgetragenen Turnschuhe – nur wenige Zentimeter vom Ort des Aufpralls entfernt – noch die ausgefransten Enden der gebleichten Jeans. Und während sie
tiefer in den Wald vordrang, hörte sie weder den stoßweisen Atem noch das heisere, sich vor Erregung überschlagende Flüstern.
»Noch nicht, Jo Ellen, noch nicht. Noch bin ich nicht bereit. Aber jetzt muß ich dir weh tun. Du wirst bereuen, was du eben gesagt hast.«
Langsam richtete er sich auf. Er glaubte zu wissen, wohin sie unterwegs war. Und er kannte den Wald wie seine Westentasche. Mit geschmeidigen Bewegungen verschwand er zwischen den Bäumen, um ihr zuvorzukommen.
TEIL DREI
Liebe ist stark wie der Tod;
Leidenschaft grausam wie das Grab.
DAS HOHE LIED SALOMOS
Zwanzig
Erst als sie fast an Nathans Cottage angekommen war, bemerkte Jo, welche Richtung sie eingeschlagen hatte. Als sie stehenblieb, hörte sie Schritte. Ein Adrenalinstoß durchströmte sie. Sie ballte die Fäuste, ihre Muskeln wurden hart. Angriffsbereit fuhr sie herum.
Da trat Nathan aus dem Schatten des Waldes.
Als er sie sah, wurde er schneller. Einen Schritt vor ihr blieb er stehen. Seine Schuhe und der ausgefranste Saum seiner Jeans waren feucht, seine Haare vom auffrischenden Wind zerzaust.
»Na, kampfbereit?«
»Sieht so aus.«
Er trat vor und berührte mit seiner Faust ihr Kinn. »In zwei Runden hab’ ich dich am Boden. Wollen wir’s versuchen?«
»Vielleicht ein andermal.« Das Blut, das in ihren Ohren pochte, beruhigte sich langsam wieder. Er hatte breite Schultern. Breit genug, um sich anzulehnen – wenn man der anlehnungsbedürftige Typ war. »Brian hat mich rausgeschmissen«, sagte sie und steckte die Hände in die Taschen. »Also bin ich ein bißchen spazierengegangen.«
»Ich auch. Ich bin fürs erste genug gelaufen.« Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. »Wie steht’s mit dir?«
»Ich hab’ mich noch nicht entschieden.«
»Warum kommst du nicht mit rein …?« Er nahm ihre Hand, spielte mit ihren Fingern. »Denk drüber nach.«
Ihr Blick wanderte von ihren Händen hoch zu seinen Augen und blieb dort. »Du willst doch nicht, daß ich zum Nachdenken reinkomme, Nathan.«
»Komm trotzdem rein. Schon zu Abend gegessen?«
»Nein.«
»Diese Steaks warten immer noch.« Er umfaßte ihre Hand fester und zog sie zur Hütte. »Warum hat Brian dich denn rausgeschmissen?«
»Streit in der Küche. Es war meine Schuld.«
»Na, dann werde ich dich nicht bitten, mir beim Grillen zu helfen.« Er betrat das Blockhaus und schaltete das Licht ein. »Dazu habe ich nur tiefgefrorene Pommes frites und einen weißen Bordeaux zu bieten.«
»Hört sich prima an. Kann ich mal eben telefonieren? Ich will nur Bescheid sagen, daß ich noch … eine Weile weg bin.«
»Aber bitte.« Nathan kramte die Steaks aus der Tiefkühltruhe. Sie ist so sprunghaft, dachte er, während er das Fleisch zum Auftauen in die Mikrowelle legte.
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