Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Welt geschaffen. Mir blieb gar nichts anderes übrig.«
Sein Körper straffte sich, und der Wein in seinem Mund schmeckte plötzlich sauer. »Geht es um deine Mutter?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht zum Teil. Die Psychiater waren sich da ganz sicher. Sie war ungefähr so alt wie ich jetzt, als sie uns verließ. Die Ärzte fanden das sehr interessant. Sie hat mich im Stich gelassen. Wiederhole ich den Zyklus, indem ich mich selbst im Stich lasse?«
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ihm wieder zu. »Aber es war nicht nur das. Damit bin ich den größten Teil meines Lebens klargekommen. Ich habe meine Entscheidungen getroffen und durchgezogen, ohne Kompromisse. Ich habe meinen Beruf immer gemocht – er befriedigt mich.«
Er wußte, daß seine Hand nicht ruhig bleiben würde, und stellte das Glas ab. »Jo Ellen, was uns in der Vergangenheit widerfahren
ist, was uns andere Menschen angetan haben, darf nicht zerstören, was wir sind. Was wir haben. Das dürfen wir nicht zulassen.«
Sie schloß die Augen; seine Worte trösteten sie. »Das sage ich mir auch. Jeden Tag. Dann sind die Träume gekommen. Ich habe schon immer sehr lebhaft geträumt, aber diese Träume haben mich fast verrückt gemacht. Ich habe weder geschlafen noch gegessen. Ich weiß nicht mehr, ob das schon vor oder erst nach den ersten Bildern angefangen hat.«
»Welchen Bildern?«
»Jemand fing an, mir Fotos zu schicken. Von mir selbst. Zuerst nur von meinen Augen.« Sie strich sich über den Arm, um die Kälte zu vertreiben. »Ich hab’ versucht, es zu ignorieren, aber es ging nicht. Es hat mich nervös gemacht. Dann kam ein ganzer Packen Fotos – Dutzende. Ich vor dem Haus, im Supermarkt, bei einem Auftrag. Überall, wo ich hinging. Er war da, hat mich beobachtet.« Langsam strich ihre Hand über ihr rasendes Herz. »Und dann habe ich geglaubt, ich würde … mehr sehen. Ich habe halluziniert, bin in Panik geraten. Und zusammengebrochen.«
Wut stieg in ihm hoch. »Irgendein Dreckskerl hat dir nachspioniert, dich verfolgt, dich gequält, und du gibst dir die Schuld für deinen Zusammenbruch?« Er zog sie an sich.
»Ich bin nicht damit klargekommen.«
»Hör auf damit. Ein Mensch kann nicht mit allem klarkommen. Dieser Dreckskerl.« Er starrte über ihre Schulter und wünschte sich, etwas zu haben, womit er kämpfen konnte. »Und was unternimmt die Polizei von Charlotte dagegen?«
»Ich habe es nicht gemeldet.« Als er sie auf Armeslänge von sich stieß, weiteten sich ihre Augen. Und sie wurden noch größer, als sie die Wut in seinem Gesicht sah.
»Was? Du hast es nicht gemeldet? Du läßt den Kerl einfach so davonkommen? Ohne etwas zu unternehmen?«
»Ich wollte nur weg, weg von der ganzen Sache. Ich bin nicht mit der Situation klargekommen. Ich war wie gelähmt.«
Als er bemerkte, daß sich seine Finger in ihre Schulter gegraben hatten, gab er sie frei. Er griff nach seinem Glas und wandte ihr den Rücken zu. Und erinnerte sich daran, wie er
sie auf der Insel zum ersten Mal getroffen hatte. Bleich hatte sie ausgesehen, erschöpft, unglücklich, die Augen gerötet.
»Du hast Ruhe gebraucht.«
In drei kurzen Stößen ließ sie ihren Atem entweichen. »Ja, wahrscheinlich. Aber heute ist mir klar geworden, daß ich sie hier nicht finde. Er war hier.« Entschlossen schluckte sie die erneut aufsteigende Panik hinunter. »Er hat mir von Savannah aus Fotos geschickt. Fotos, die er hier auf der Insel gemacht hat.«
Wieder überkam ihn eine Welle der Wut. Um äußere Ruhe bemüht, wandte sich Nathan langsam Jo zu. »Dann werden wir ihn finden. Und ihm das Handwerk legen.«
»Ich weiß ja noch nicht mal, ob er immer noch hier ist. Ob er zurückkommt, ob er … Und das Schlimmste ist, daß ich nicht weiß, warum. Aber langsam fange ich an, damit klarzukommen.«
»Das mußt du nicht allein tun. Jo Ellen, mir liegt sehr an dir. Ich lasse nicht zu, daß du die Sache allein anpackst.«
»Vielleicht bin ich deshalb hierhergekommen. Vielleicht mußte ich deshalb hierherkommen.«
Er stellte sein Glas ab und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Ich lasse nicht zu, daß dir irgend jemand weh tut. Bitte glaub mir das.«
»Die Polizei hat gesagt …«
»Du bist zur Polizei gegangen?«
»Ja, heute. Ich …« Als seine Lippen zärtlich über ihre strichen, verlor sie einen Moment lang den roten Faden. »Sie haben gesagt, sie würden sich drum kümmern. Aber was sollen sie tun? Ich bin nicht bedroht worden.«
»Du fühlst dich
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