Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
zu eigen gemacht.
Er hatte ihr gefehlt. Seltsam, daß ihr erst jetzt auffiel, wie sehr sie ihn vermißt hatte, den Blick aus dem Fenster des Zimmers, in dem sie während der ersten achtzehn Jahre ihres Lebens fast jede Nacht geschlafen hatte.
Viele Stunden hatte sie mit ihrer Mutter im Garten verbracht, hatte die Namen der Blumen und alles über ihre Bedürfnisse und Eigenheiten gelernt, hatte das Gefühl von Erde zwischen ihren Fingern und die Sonne auf ihrem Rücken genossen. Vögel und Schmetterlinge, die Melodie des Windes, die Plusterwölkchen, die vor dem zartblauen Himmel dahinzogen, all das gehörte zu den gehüteten Erinnerungen an ihre frühe Kindheit.
Offenbar habe ich den Zugang zu den Erinnerungen verloren, bemerkte Jo, während sie sich müde vom Fenster abwandte. Die Bilder, die sie von dieser Szene entweder mit der Kamera oder in ihrer Erinnerung festgehalten hatte, waren über lange Zeit verschwunden gewesen.
Auch ihr Zimmer hatte sich kaum verändert. Im privaten Flügel von Sanctuary waren Annabelles Stil und Geschmack noch immer lebendig. Für ihre älteste Tochter hatte sie ein Himmelbett aus glänzendem Messing mit verspielten Kranzleisten und Knäufen ausgesucht. Der Bettüberwurf war aus antiker irischer Spitze und ein Familienerbstück der Pendletons, das Jo wegen seines Musters und seiner Struktur immer sehr gemocht hatte. Und weil es so unverwüstlich und zeitlos wirkte.
Die Tapete zeigte fröhliche Sträußchen blühender Traubenhyazinthen auf einem elfenbeinfarbenen Hintergrund und gerahmt von einem Fries in warmem Honiggelb.
Annabelle selbst hatte die Antiquitäten ausgesucht – die kugeligen Lampen und die Tischchen aus Ahornholz, die zierlichen Stühle und die Vasen, die immer mit frischen Blumen gefüllt waren. Sie hatte ihre Kinder früh an das Leben und den Umgang mit kleinen Kostbarkeiten gewöhnen wollen. Den Sims des kleinen marmornen Kamins zierten Kerzen und Muscheln. Das Regal auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers beherbergte mehr Bücher als Puppen.
Annabelle war tot. Ganz gleich, wieviel sich von ihr noch trotzig in diesem Raum, in diesem Haus, auf dieser Insel gehalten hatte, sie war tot. Irgendwann im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre war sie gestorben, war ihr Verschwinden unwiderruflich besiegelt worden.
Warum hatte jemand diesen Tod unsterblich gemacht und auf Film gebannt? Und warum war der Beweis ihres Todes Annabelles Tochter zugeschickt worden?
TOD EINES ENGELS
Diese Worte hatten auf der Rückseite des Fotos gestanden. Jo erinnerte sich nur zu gut an sie. Sie preßte den Handballen fest zwischen die Brüste, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Was für eine Art von Krankheit ist das? fragte sie sich. Was für eine Art von Bedrohung? Und wieviel davon war gegen sie selbst gerichtet?
Das Foto war bei ihrer Rückkehr in die Wohnung verschwunden gewesen. All die anderen, die alltäglichen Fotos
von ihr selbst, lagen noch in der Dunkelkammer auf dem Boden verstreut, wo sie sie in ihrer Panik hatte fallen lassen.
Und obwohl sie stundenlang jeden Quadratzentimeter ihrer Wohnung abgesucht hatte, war der Abzug, der sie so aus der Fassung gebracht hatte, verschwunden geblieben.
Und wenn er nie existiert hatte …? Mit geschlossenen Augen ließ sie die Stirn an die Fensterscheibe sinken. Wenn sie ihn in ihrer Phantasie selbst fabriziert hatte, wenn sie sich irgendwie wünschte, daß ihre Mutter nackt und tot zu sehen war – als was stand sie dann da?
Was konnte sie eher akzeptieren? Ihre eigene geistige Instabilität oder den Tod ihrer Mutter?
Sie zwang sich, ruhig und tief durchzuatmen. Ich muß etwas Praktisches machen, beschloß sie, etwas ganz Alltägliches, und so tun, als wäre das ein völlig normaler Besuch zu Hause. Sie mußte nachdenken, planen. Irgendwie mußte sie wieder einen klaren Kopf bekommen. Und sich dann auf den nächsten Schritt konzentrieren.
Aber ihre Gedanken schweiften ab, sie träumte fast.
Als es klopfte, waren scheinbar erst Sekunden vergangen, aber Jo fühlte sich wie aus dem Schlaf gerissen und war völlig desorientiert. Sie sprang auf, peinlich berührt, tagsüber bei einem Nickerchen erwischt worden zu sein. Bevor sie die Tür öffnen konnte, steckte Kate schon den Kopf ins Zimmer.
»Ach, hier bist du. Mein Gott, Jo, du siehst ja aus wie der Tod persönlich. Setz dich hin, trink den Tee hier und erzähl mir, was mit dir los ist.«
Typisch Kate, dachte Jo, diese offene, sachliche, zupackende Art.
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