Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
einem langen Seufzer die Luft aus ihren Lungen entweichen.
Ihr Kopf schmerzte, ihr Magen war ein einziger dicker Knoten, und ein dumpfes Schuldgefühl beschlich sie.
Kate hatte unrecht. Es fühlte sich ganz wie zu Hause an.
Vom Rand der Sümpfe aus beobachtete Sam Hathaway einen Falken, der über seinem Jagdrevier kreiste. Sam hatte das Haus an diesem Morgen schon vor Anbruch der Dämmerung verlassen und war auf die dem Land zugewandte Inselseite hinübergewandert. Er wußte, daß Brian etwa zur selben Zeit aus dem Haus gegangen war, aber sie hatten nicht miteinander gesprochen. Jeder ging seiner eigenen Wege.
Manchmal nahm Sam den Jeep, aber meistens ging er zu Fuß. An manchen Tagen lief er zu den Dünen und beobachtete, wie die Sonne über dem Meer aufging, wie sie das Wasser blutrot, dann golden und schließlich blau färbte. Wenn der Strand breit und hell und funkelnd vor ihm lag, lief er manchmal meilenweit und suchte dabei mit angestrengtem Blick nach Erosionen, hielt nach frischen Sandanhäufungen Ausschau.
An manchen Tagen wanderte er lieber hinüber zum Waldrand hinter den Dünen, wo es in den kleinen Seen und Moortümpeln vor Leben wimmelte. An manchen Morgen zog er die dort herrschende Ruhe und das gedämpfte Licht dem Donnern der Wellen und den gleißenden Strahlen der aufgehenden Sonne vor. Wie ein geduldiger Reiher, der auf einen ahnungslosen Fisch wartete, konnte er minutenlang reglos am Ufer stehen.
An manchen Tagen vergaß er bei den dick mit Entengrütze überzogenen Tümpeln unter den schattigen Weiden, daß neben dieser, seiner eigenen Welt noch eine andere existierte. Hier waren für ihn der Alligator, der im Schutze des Schilfs seine letzte Mahlzeit verdaute, und die Schildkröte, die sich neben dem umgestürzten Baumstamm sonnte und vielleicht die nächste Beute des Reptils war, wirklicher als alle Menschen.
Aber nur ganz, ganz selten ließ Sam die Weiher hinter sich liegen, um im Schatten des Waldes zu verschwinden. Der Wald war Annabelles liebster Aufenthaltsort gewesen.
An anderen Tagen zog es ihn hierher, zu den Sümpfen und ihren Geheimnissen. Hier gab es einen Kreislauf, den er verstand – Wachstum und Niedergang, Leben und Tod. Das war die Natur, sie konnte er akzeptieren. Sie entzog sich der Macht des Menschen, und niemand würde – solange Sam über sie wachte – irgendwelche Eingriffe wagen.
An den Rändern der Sümpfe beobachtete er die Krabben, die so geschäftig im Schlamm umherhuschten, daß sie dabei feine, wie Seifenlauge knisternde Geräusche machten. Sam wußte, daß sich Waschbären und andere Raubtiere anschleichen, die emsigen Krabben aus dem Schlamm kratzen und verspeisen würden, sobald er sich zurückzog.
Jetzt färbte sich mit der Ankunft des Frühlings das wogende goldgelbe Schilfgras grün, und auf den Wiesen zeigten Meerlavendel und Ochsenauge erste Blüten. Schon mehr als dreißigmal hatte er das Frühjahr auf Desire einziehen sehen, und er war es immer noch nicht leid.
Es war das Land seiner Frau gewesen, das in ihrer Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Aber als er es zum ersten Mal betreten hatte, war es auch sein Land geworden. Ebenso wie Annabelle sein geworden war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Die Frau war nicht bei ihm geblieben, aber nach ihrem Verschwinden blieb ihm wenigstens das Land.
Sam war als Fatalist geboren – oder zu einem geworden. Dem Schicksal konnte man nicht entgehen.
Annabelle hatte ihm das Land gegeben, und er hütete es sorgsam, verteidigte es entschlossen und verließ es so gut wie nie.
Sam betrachtete die vom Wasser ausgewaschenen und bloßgelegten Wurzeln der Bäume dicht am Flußufer. Manche waren der Meinung, daß man Maßnahmen zum Schutz der Flußufer ergreifen sollte, aber Sam glaubte, daß sich die Natur ihren Weg schon suchte. Wenn die Menschen, und sei es in der besten Absicht, Hand anlegten, um den Lauf des Flusses zu
verändern – welche Auswirkungen würde das in anderen Bereichen haben?
Nein, er würde alles unverändert lassen, würde das Land und das Meer, den Wind und den Regen die Sache unter sich ausfechten lassen.
Nur ein paar Schritte entfernt stand Kate und beobachtete ihn. Er war ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit rötlichbrauner Haut und dunklem, allmählich ergrauendem Haar. Sein entschlossener Mund lächelte nicht oft, und noch seltener lachten seine changierenden haselnußbraunen Augen. Tief eingegrabene Falten umfächerten diese
Weitere Kostenlose Bücher