Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Lächelnd beobachtete sie, wie Kate mit dem Teetablett in den Händen den Raum betrat. »Du siehst wunderbar aus.«
»Ich achte eben auf mich.« Kate stellte das Tablett auf dem niedrigen Beistelltisch neben der Sitzgruppe ab und zeigte auf einen Sessel. »Was du ganz offensichtlich nicht tust. Du bist viel zu dünn, viel zu blaß, und deine Haare sehen katastrophal aus. Aber keine Angst, das kriegen wir alles schon wieder hin.«
Aus einer mit Efeuranken bemalten Kanne goß sie den Tee in zwei dazu passende Tassen. »Also los, erzähl.« Sie lehnte
sich bequem zurück, nahm einen Schluck und legte erwartungsvoll den Kopf auf die Seite.
»Ich gönn’ mir eine Pause«, begann Jo. »Nur ein paar Wochen.«
»Jo Ellen, mir kannst du nichts vormachen.«
Nein, das habe ich nie gekonnt, dachte Jo, niemand hatte es je gekonnt, von dem Augenblick an, als Kate Sanctuary zum ersten Mal betreten hatte. Sie war einige Tage nach Annabelles Verschwinden eingetroffen und wollte eine Woche bleiben. Zwanzig Jahre später war sie noch immer da.
Und wir haben sie weiß Gott gebraucht, erinnerte sich Jo, während sie fieberhaft überlegte, wieviel sie Katherine Pendleton wirklich erzählen mußte. Um Zeit zu gewinnen, nippte sie an ihrem Tee.
Kate war Annabelles Cousine, und die Familienähnlichkeit zeigte sich an den Augen, am Teint und an der Gestalt. Doch dort, wo Annabelle in Jos Erinnerung immer weich und weiblich gewirkt hatte, war Kate kantig und präzise.
Ja, Kate achtet auf sich, stimmte ihr Jo innerlich zu. Sie trug einen knabenhaften Kurzhaarschnitt, der wie eine rotbraune Kappe erschien und zu ihrem immer aufmerksamen Fuchsgesicht und ihrer praktischen Veranlagung paßte. Sie kleidete sich leger, aber niemals nachlässig. Ihre Jeans waren immer gebügelt und ihre T-Shirts appetitlich frisch. Ihre Nägel trug sie kurz, sauber gefeilt und nie ohne drei Schichten transparenten Lack. Trotz ihrer fünfzig Jahre war sie rank und schlank, so daß man sie von hinten ohne weiteres für einen Teenager halten konnte.
Kate war an einem absoluten Tiefpunkt in ihr Leben getreten und hatte ihnen Halt gegeben. Sie war einfach da gewesen, hatte sich um alles gekümmert, hatte jedem von ihnen gesagt, was als nächstes getan werden mußte, und sie in ihrer trockenen Art gepiesackt und gleichzeitig geliebt, bis sich in ihrem Leben zumindest ein Anschein von Normalität eingestellt hatte.
»Du hast mir gefehlt, Kate«, murmelte Jo, »wirklich gefehlt.«
Kate betrachtete sie einen Moment lang schweigend, und ein amüsierter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Du kannst
mich nicht ablenken, Jo Ellen. Du hast Probleme, und du kannst dir aussuchen, ob du mir davon erzählen möchtest oder ob ich mich raushalten soll. Ich werde beides akzeptieren.«
»Ich brauche etwas Zeit für mich.«
Das, dachte Kate, ist zweifellos wahr. Sie kannte Jo sehr genau und bezweifelte, daß ein Mann die Schuld an dem verletzten Blick in ihren Augen trug. Vielleicht ihre Arbeit. Die Arbeit, der Jo freiwillig ihr Leben untergeordnet hatte.
Mein kleines Mädchen , dachte Kate, mein armes, kleines Mädchen. Was hat man dir nur angetan?
Kate faßte den Henkel ihrer Tasse fester, damit ihre Finger nicht zitterten. »Hat man dir weh getan?«
»Nein, nein.« Jo stellte ihre Tasse ab und drückte ihre Hände auf die schmerzenden Augen. »Ich bin nur überarbeitet. Zuviel Streß. Ich habe mich in den letzten Monaten wohl ein bißchen übernommen. Der Druck, nichts weiter.«
Kate runzelte die Stirn. Die Falte, die sich dabei zwischen ihren Brauen bildete, war, wenig schmeichelhaft, als die Pendletonsche Sorgenfalte bekannt. »Welcher Druck hat dich so dünn gemacht, Jo Ellen, und läßt deine Hände zittern?«
Wie zur Abwehr verkrampfte Jo ihre fahrigen Hände im Schoß. »Man könnte wohl sagen, ich habe zu wenig auf mich geachtet.« Jo lächelte schwach. »Ich gelobe Besserung.«
Kate tippte mit ihren Fingern auf die Armlehne des Sessels und studierte Jos Gesicht. Ihr Kummer schien tiefer zu sitzen als nur berufliche Sorgen. »Bist du krank gewesen?«
»Nein.« Die Lüge kam ihr fast so leicht über die Lippen, wie sie es gehofft hatte. »Ich bin bloß ein bißchen kaputt. Ich habe in der letzten Zeit nicht gut geschlafen.« Unter Kates Blicken nervös geworden, stand Jo auf und kramte in den Taschen der achtlos über eine Stuhllehne geworfenen Jacke nach Zigaretten. »Ich plane ein Buch – das hab’ ich dir doch neulich geschrieben. Ich glaube, das
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